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Wolfgang Kubicki über den Fall Amri„Verstehe nicht, warum Ralf Jäger noch im Amt ist“

Lesezeit 6 Minuten
Kubicki dpa

Wolgang Kubicki

Köln – Im Streit über die politische Verantwortung im Fall des Terroristen Anis Amri hat der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) kritisiert. „Ich finde es wenig fair von ihm so zu tun, als würden die Gerichte unüberbrückbare Hürden für Abschiebungshaft herstellen“, sagte Gnisa der „Rheinischen Post". „Die Behörden hätten zunächst die rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen müssen“, betonte der Jurist. Amri war am 19. Dezember mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachtsmarkt gerast. Dabei starben zwölf Menschen.

Zuvor hatte bereits Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) den NRW-Behörden Nachlässigkeit vorgeworfen. Aus seiner Sicht wäre es keineswegs unmöglich gewesen, Amri in Abschiebehaft zu nehmen, hatte der CDU-Politiker gesagt. (dpa)

Wir haben mit FDP-Politiker Wolfgang Kubicki über den Fall gesprochen.

Die FDP sieht sich als Partei der Bürgerrechte. Ist für sie das Abwägen von Freiheit und innerer Sicherheit ein Dilemma?

Das schließt sich wechselseitig nicht aus. Videoüberwachung kann das subjektive Sicherheitsgefühl verstärken, verhindert aber nicht eine einzige Straftat. Es kann unter Umständen zur Aufklärung beitragen, aber es gibt in Deutschland nicht eine einzige Verurteilung, die allein auf einem Videobeweis beruht. Der Kölner Hauptbahnhof 2015 war videoüberwacht, der Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofes 2016 war videoüberwacht, wir hatten wahrscheinlich mehr Videokameras dort als sonst in Köln und trotzdem hatten sich wieder 1000 junge Männer versammelt, allerdings nicht um Silvester zu feiern. Wären nicht 1700 Polizisten vor Ort gewesen, wäre es wieder zu Straftaten gekommen, wie im Jahr zuvor.

Videoüberwachung ist definitiv kein Allheilmittel, außer für Entscheidungsträger, die ihr eigenes Versagen verschleiern wollen und dann sagen können: Hätten wir hier Kameras gehabt, wäre es auch nicht passiert. Also: Es erhöht das subjektive Sicherheitsgefühl, hilft aber objektiv nicht weiter. Der Berliner Attentäter Amri ist aus dem LKW ausgestiegen, ist zu Fuß zum Bahnhof Zoo gelaufen, hat sich vor eine Videokamera gestellt und mit seiner Hand den Gruß des IS gezeigt. Attentäter, die wollen, dass ihre Tat möglichst schnell verbreitet wird, suchen sich möglicherweise gerade solche Plätze aus, die von Videokameras überwacht werden. Die Welt soll es ja erfahren.

Was hilft dann weiter?

Was wir brauchen, sind Polizeibeamte. Wir brauchen Menschen mit Analysefähigkeiten, die außerdem schnell vor Ort sind. Eine Videokamera nützt überhaupt nichts, wenn die Polizei viel zu lange braucht, bis sie da ist.

Wie passt der liberale Grundgedanke in die jüngste Silvesternacht, wo Nordafrikaner, Syrer, Iraker festgehalten wurden? Ist das ein zentraler Eingriff in die Freiheitsrechte?

Selbstverständlich ist die Überprüfung ein Eingriff in die Freiheitsrechte. Wenn ich weiß, dass auf so einer Veranstaltung so etwas passieren kann, weiß ich auch, dass ich mich freiwillig darauf einlasse, mich kontrollieren zu lassen. Das machen wir bei jedem Stadionbesuch und bei jedem Konzert. Selbstverständlich musste jedem Besucher auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz klar sein, dass diesmal stärker kontrolliert wird, als ein Jahr davor. Aus welchen Ländern die jungen Männer kamen, ist dabei nebensächlich. Es ist kein rassistischer Angriff, sondern konsequentes Polizeihandeln. Wenn Sie wissen, dass 90 Prozent aller Raubtaten von jungen Männern unter 30 begangen werden, macht es keinen Sinn, eine 70-jährige Frau zu kontrollieren. Nur bei einer potenziellen Tätergruppe machen Kontrollen Sinn. Hier wird nicht in Freiheitsrechte eingegriffen.

Wie ist es bei der Kontrolle von Gefährdern?

Es ist kein Eingriff in die Freiheit, wenn wir auf rechtlicher Grundlage Gefährder überwachen. All die Attentäter von Paris, Brüssel oder Berlin waren den Behörden vorher bekannt. Und trotzdem konnten sie die Anschläge verüben. Zusätzliche elektronische Überwachung führt uns nicht weiter, wenn wir kein Personal mit entsprechender Analysefähigkeit haben, das im Zweifel auch zugreift.

Wie bewerten Sie die Rolle von NRW im Fall Amri? Welche Verantwortung trägt Innenminister Jäger im Fall Amri?

Unabhängig davon, dass in NRW der Wahlkampf beginnt, sind wir uns alle einig, dass ein Minister nicht mehr im Amt sein darf, der das zu verantworten hatte wie Ralf Jäger. Und ich verstehe auch nicht, warum er noch im Amt ist. Das wird Frau Kraft noch auf die Füße fallen. Denn es stellt sich immer mehr heraus, was für ein unglaubliches Behördenversagen in NRW vorgelegen hat. Und wie Jäger zu sagen, man sei bis an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen, ist eine Veralberung der Bevölkerung, um es freundlich zu formulieren.

Werden Sie konkreter.

Nicht bei einem einzigen Gericht ist ein Antrag gestellt worden. Hätte ein Richter gesagt, nein, das reicht nicht aus für eine Gewahrsamnahme, wäre es etwas anderes. Aber nicht einmal der Antrag ist gestellt worden. Der Amtsgerichtsdirektor in Ravensburg hatte erklärt, wenn uns jemand von den NRW-Behörden gesagt hätte, was sie wussten, säße Amri immer noch in Haft oder wäre längst abgeschoben worden. Die Gesetze, die es gibt, hätten völlig ausgereicht. Im Jahr 2015 wurde das Aufenthaltsrecht exakt für die Fälle wie Amri verschärft. Der hätte bis zu 18 Monate in Haft sitzen können. Der Bundesgerichtshof hat 2010 entschieden, dass jemand, der an der Feststellung der eigenen Identität nicht mitwirkt, sich nicht darauf berufen kann, dass sein Heimatland seine Papiere zu langsam übermittelt. Das ist dann sein Verschulden.

De Maizière hat mit seiner Kritik an Jäger also recht?

Allein die Tatsache, dass die Duisburger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einstellt mit der Bemerkung, sie habe keine Meldeadresse, zieht einem Strafverteidiger wie mir die Schuhe aus. Das ist die Voraussetzung für einen Haftbefehlsantrag und für eine Fahndung. Ich kann Ihnen sicher sagen, dass jeder Amtsrichter einen entsprechenden Haftbefehl unterschrieben hätte mit der Maßgabe, wenn er verkündet wird, können wir ihn noch aussetzen. Aber damit ihr ihn suchen könnt oder für eine Fahndung ausschreiben könnt, können wir ihn unterschreiben. Was denn sonst?

Das ist jetzt zu spät. Wie bewerten Sie also Jägers Behauptungen, er habe alles getan? Hat er also nicht nur eine formale, sondern eine inhaltliche Verantwortung?

Ich bin gerne bereit, mich mit Herrn Jäger vor jedem Gericht zu streiten. Die Erklärung von ihm, er sei bis an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen, ist eine Lüge. In sicherer Kenntnis, dass diese Aussage falsch ist, ist es eine Lüge. Möglicherweise war der Glaube da, wir gucken uns Herrn Amri und seine Verbindungen an, um ein Netzwerk aufzudecken. Ich vermute mal, dass die Verhaftung des Imams in Hildesheim auf Antrag nordrhein-westfälischer Behörden mit Amri zu tun hat, weil er sich ja dort auch aufgehalten hat. Man hat ihn anschließend aus den Augen verloren. Dann muss man aber sagen: Tut mir leid, ist passiert. Aber dafür übernehme ich jetzt nicht nur die politische, sondern die wirkliche Verantwortung.