Verwundete Kinder, Traumata und verlorene medizinische Einrichtungen: Unser ukrainischer Autor schildert die Lage an der Kinderklinik Okhmatdyt nach dem russischen Raketenangriff.
„Mir fehlen die Worte“Ukrainischer Reporter berichtet von zerstörter Kinderklinik in Kiew
Am Abend des 7. Juli legten meine Frau Olena und ich unsere ein Jahr alte Tochter Emilia schlafen. Danach trug ich meine englische Bulldoggen-Hündin Beauty die Treppen vom 14. Stock zum Gassigehen herunter auf die Straße und anschließend wieder hoch. Weil die Russen fast alle ukrainischen Kraftwerke zerstört haben, fällt in Kiew und im ganzen Land ständig der Strom aus. Den Aufzug zu nehmen, ist in dieser Situation ein unkalkulierbares Risiko.
Als ich mich bettfertig machte, las ich auf einem der Telegram-Kanäle, dass in der Nacht zum 8. Juli mit hoher Wahrscheinlichkeit ein groß angelegter Raketenangriff auf die Ukraine bevorstünde. Tatsächlich erwachten wir um 2:30 Uhr früh vom durchdringenden Ton der Luftschutzsirenen. Marschflugkörper flogen auf die Ukraine zu. Doch diesmal gingen sie an Kiew vorbei. Also entspannten wir uns und legten uns wieder schlafen.
Normalerweise bombardieren die Russen frühmorgens
Um 9 Uhr morgens, während wir – immer noch ohne Strom - kalten Haferbrei und Sandwiches frühstückten, las ich zu meiner Überraschung auf Telegram, sechs strategische Langstreckenbomber der Russen vom Typ Tupolew TU-95 hätten im Raum Kaspisches Meer Raketen in Richtung der Ukraine abgefeuert. Das bedeutete, dass sie in etwa einer Stunde ukrainischen Luftraum erreichen würden. Das Ganze erschien mir seltsam. Normalerweise bombardieren die Russen frühmorgens. Derselbe Telegram-Kanal berichtete auch, dass es sich möglicherweise um simulierte Raketenstarts gehandelt habe. Ich beschloss, mich auf den Weg zur Arbeit als Software Engineer zu machen.
Gegen 10 Uhr heulte erneut die Luftschutzsirene. Meine Kollegen auf der Arbeit stellten ihre Kaffeetassen beiseite und vertieften sich in ihre Smartphones, um die wahrscheinlichen Flugbahnen der zu erwartenden Raketen zu verfolgen. Wir alle waren – warum auch immer – zuversichtlich, dass die ukrainische Luftabwehr alle feindlichen Flugkörper abschießen würde.
Ein mächtiger Knall, und der Boden unter uns bebte
Ich ging mit meinen Kollegen nach draußen ins Freie. Einer von ihnen erhielt einen Anruf von seiner Frau, die sich zu dieser Zeit in der Region Tschernihiw aufhielt. Sie informierte ihn, dass gerade eine Gruppe von Raketen über ihr Dorf geflogen sei. Nur Augenblicke später hallte eine erste Explosion über uns wider, und eine große schwarze Wolke wurde sichtbar. Eine ukrainische Abfangrakete hatte ein russisches Geschoss getroffen. Weitere mächtige Explosionen folgten. Die Fenster unseres Bürogebäudes vibrierten bedenklich. Als wir zu den automatischen Türen am Hauseingang rannten, hörten wir wieder Raketen über uns hinwegdonnern. Augenscheinlich flogen sie in Richtung der U-Bahn-Station Lukianiwska. Kaum wieder im Haus, war von irgendwo her ein mächtiger Knall zu hören. Der Boden unter uns bebte.
Uns packte die Angst, und wir rannten in den Luftschutzbunker, wo andere Kollegen bereits versammelt waren. Es war klar: Die russischen Raketen mussten ein Ziel getroffen haben. Wir wussten nur noch nicht, welches. Einen Freund in meiner Nähe erreichte die Nachricht, eine russische Rakete sei im Okhmatdyt-Krankenhaus eingeschlagen, der größten Kinderklinik der Ukraine. Sofort versuchte eine Frau im Bunker, ihre Tochter anzurufen, die sich im Okhmatdyt in Behandlung befand. Das Mädchen antwortete nicht. Die Mutter geriet in Panik und schrie vor Verzweiflung.
Sobald die Sirenen Entwarnung gaben, sprangen mein Freund und ich ins Auto und fuhren in Richtung Krankenhaus. Auf dem Weg sahen wir in der Nähe der U-Bahn-Station Lukianiwska einen elektrischen Trolleybus mit zerborstenen Fenstern und ein Auto, bei dem die Druckwelle des Raketeneinschlags im Krankenhaus die Airbags ausgelöst hatte.
Ich parkte in der Nähe der Klinik. Alles war übersät mit Glasscherben, Schutt, Stücken von Elektrokabeln. Wir gingen ein paar hundert Meter und waren umso schockierter, je weiter wir an das Krankenhaus selbst herankamen. In einem der Gebäude waren sämtliche Fenster herausgeflogen, ein anderes war in Teilen bis auf die Grundmauern zerstört. Rettungskräfte, Polizisten, Ärzte und Krankenschwestern waren schon vor Ort. Direkt vor mir schoben zwei Ärzte und ein Rettungsarbeiter ein Kind auf einer rollbaren Spezialtrage.
Im Gesicht des Kinds zeichneten sich Druckspuren einer Sauerstoffmaske ab. In seiner Hand steckte eine Infusionsnadel. Das Kind lag regungslos mit weit geöffneten Augen da, über und über bedeckt mit Staub und Schutt. Auf dem ganzen Körper waren kleine Blutflecken verteilt.
Das einzige hämatologische Labor der Ukraine zerstört
Ein Arzt neben der Trage hielt ein Glas mit einer Flüssigkeit hoch. Eine junge Frau rannte hinter der Trage her und stolperte mehrmals über Bruchstücke von Ziegelsteinen, die überall verstreut lagen. In den Händen hielt sie Kleidungsstücke und Plastiktüten. Ein Krankenwagen mit weit geöffneten Türen wartete bereits auf das Kind. Sanitäter schoben es hinein und halfen auch der Frau beim Einsteigen. Sie warfen die Türen zu, und unter Sirenengeheul fuhr der Krankenwagen los.
Einer der Rettungsarbeiter berichtete, dass die toxikologische Abteilung der Klinik vollständig zerstört und auch ein Teil des einzigen hämatologischen Labors im ganzen Land verloren gegangen sei. Nach Angaben des Retters befanden sich zum Zeitpunkt des russischen Angriffs zuckerkranke Kinder zur Dialyse in der Toxikologie.
Auf Facebook registrierte ich, dass meine Bekannte Iryna Soloshenko eine der ersten war, die das Okhmatdyt erreichte, nachdem die russische Rakete eingeschlagen war. Iryna ist eine bekannte medizinische Freiwillige, die sowohl Kinder als auch ukrainische Soldaten betreut. Sie berichtete mir, dass zum Zeitpunkt des Raketenangriffs mehr 600 Patienten und mindestens ebenso viele Krankenhausmitarbeiter im Okhmatdyt gewesen sein.
„Kaum war die Angriffswelle vorüber, bin ich zum Krankenhaus gerannt“, erzählte Iryna. „Aus der Toxikologie stieg dichter Rauch auf. Rettungskräfte zogen Tote und Verwundete aus dem Gebäude. Eine junge Ärztin starb an ihrem Arbeitsplatz. Direkt vor mir versuchte ein Arzt in blutverschmiertem Kittel, Trümmerteile wegzuräumen. Eine Frau nebenan schrie wild. Dort lag der verstümmelte Körper eines Toten. Es war ihr Vater. Der Körper wurde sofort mit einem Leichentuch bedeckt.“ Weiter kam Iryna in ihrem Bericht nicht. „Mir fehlen die Worte…“
Nach und nach kamen immer mehr Menschen zum Krankenhaus geströmt. Sie brachten Wasser, halfen beim Wegräumen der Trümmer, trugen überlebende Kinder aus den Krankenhausgebäuden. Es war ein seltsam chaotisch-organisiertes Treiben. Etwa eine halbe Stunde später dröhnten erneut die Sirenen. Danach waren wieder gewaltige Explosionen zu hören. Wie sich später herausstellte, hatten die Russen auch eine Entbindungsstation in einem anderen Teil Kiews getroffen. Schließlich wurden alle Zivilisten gebeten, das Krankenhaus-Gelände zu verlassen und weitere Arbeiten den professionellen Rettungskräften zu überlassen.
Immer wieder blitzen im Kopf die Bilder diesese Tages auf
Als ich zu Hause ankam, war ich erschöpft wie nie zuvor. Noch immer gab es keinen Strom. Meine Tochter schlief friedlich. Ich musste die Tränen zurückhalten. Nie werde ich den Ausdruck in den Augen des Kinds vergessen, das ich zuvor im Okhmatdyt gesehen hatte. „Samsara“, schoss es mir unwillkürlich in den Sinn: das Rad des Lebens, der beständige Kreislauf von Leben und Tod im Buddhismus. Wie mechanisch griff ich mir Beauty, trug die Hündin zum Spazierengehen hinunter und danach in völligem Dunkel wieder hoch in den 14. Stock.
Meine Frau schlief schon. Ich ließ mich in einen Sessel fallen. Der Hund weigerte sich zu fressen und legte sich auf meine Beine. Ich schloss die Augen, aber die Bilder dessen, was ich an diesem Tag gesehen hatte, blitzten immer wieder in meinem Kopf auf: die blutüberströmten kleinen Krebs- und Dialysepatientinnen und -patienten, die in ihrem Leben auch ohne den Krieg schon so viel zu leiden hatten.
Am Morgen des 9. Juli, bevor ich diese Zeilen schrieb, ging ich noch einmal zum Okhmatdyt-Krankenhaus. Vom völlig zerstörten Balkon eines nahegelegenen Gebäudes hingen zerfetzte Kleidungsstücke an einer abgerissenen Schnur herunter. Eine bizarre Szenerie, die mich aufs Neue überwältigte.
Aber dann war da auch noch etwas anderes: In den Gebäuden setzten Arbeiter bereits wieder Fenster ein. Das Geschäft „Alles kostet 15 Hrywnja“ – eine Art ukrainischer Ein-Euro-Laden – hatte bereits wieder die Türen geöffnet, die erst am Tag zuvor neu eingesetzt worden waren. In einem Café brummte ein Generator, und ein Mädchen mit violettem Haar brühte jemandem einen Morgen-Espresso. In der Nähe der U-Bahn-Station bot eine alte Frau Aprikosen aus einem Eimer feil. Die Verkäuferin nebenan ließ sich von der Nachbarin Blutergüsse an den Beinen und die Kratzer an den Ellenbogen zeigen. Vor sich hatte sie einen Strauß Sonnenblumen.