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Streng religiös, pazifistisch, Handys nur für MännerDie Hutterer in Kanada – ein Leben in absoluter Zurückgezogenheit

Lesezeit 6 Minuten

Jeder Handgriff sitzt: Während ihrer Arbeit in der Backstube singen die Hutterer-Frauen.

Die Hutterer leben streng religiös nach alten Traditionen. Gleichzeitig müssen sie sich an die moderne Hightech-Welt anpassen. Besuch bei einer Kolonie der Gemeinschaft in Kanada – mit Videoeinblick. 

Den Gesang der Frauen hört man schon von weitem. Klar und hell hallt er aus der Backstube über den Gang. In dem Raum geht es geschäftig zu: Mädchen und Frauen zwischen Schul- und Rentenalter formen Kekse, backen sie, lassen sie auskühlen. Jeder Handgriff ist routiniert, ihre Stimmen klar. Tief im Süden der kanadischen Prärieprovinz Alberta, auf einer Farm umgeben von weitem, flachem Land, singen sie „Tirol, mein Heimatland“.

Die Frauen leben in einer Hutterer-Kolonie. Die täuferische Gemeinschaft entstand Mitte des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Europa. Über Jahrhunderte wurden die Hutterer religiös verfolgt, weshalb sie immer wieder migrierten: über das heutige Tschechien in die Ukraine und später in die USA, um dann während des Ersten Weltkrieges nach Kanada überzusiedeln.

50.000 Hutterer in 560 Kolonien

Heute leben in Nordamerika rund 50 000 Hutterer in 560 Kolonien. Rund 70 Prozent befinden sich in Kanada, der Rest in den Vereinigten Staaten. Sie leben streng religiös, pazifistisch und in vollständiger Gütergemeinschaft. Was die Kolonie besitzt, besitzen all ihre Mitglieder gemeinsam.

Giselle Waldner bloggt über ihr Leben als Huttererin.

Giselle Waldner bloggt über ihr Leben als Huttererin.

Ihre Alltagssprache ist Hutterisch, ein österreichischer Dialekt, durchzogen von englischen Begriffen. Ihre Schriftsprache ist Deutsch. Tausende Kilometer von ihrer alten Heimat entfernt haben sie eine deutschsprachige Kultur konserviert, die in Europa längst nicht mehr gesprochen, geschrieben oder gelebt wird.

Gesprochen wird Hutterisch, gepredigt wird auf Deutsch

Es ist ein Spagat zwischen Bewahren und Erneuern, den die Kolonien seit fast 400 Jahren leben. Sie müssen sich an die sich stetig verändernde Welt anpassen, um nicht abgehängt zu werden. Gleichzeitig sind sie sorgsam darum bemüht, ihre Traditionen aufrechtzuerhalten, um nicht zu sehr in der neuen Welt aufzugehen. „Alle unsere Predigten sind auf Deutsch“, sagt Matilda Walter. „Viele unserer Vorfahren wurden verfolgt – und während sie im Gefängnis saßen, haben sie diese Predigten geschrieben, hunderte von ihnen. Sie haben alle eine tiefe Bedeutung. Die Sprache ist Teil unserer Kultur.“

Matilda Walter ist Kindergärtnerin und Frau des Finanzchefs der Kolonie. An einem windigen Herbstnachmittag führt sie über die weitläufige „Spring Point Colony“, auf der 112 Menschen leben, lernen und arbeiten. Hier werden auf 12 000 Hektar Rinder, Milchkühe, Legehennen, Schweine und Schafe gehalten und Futtermittel für die Tiere angebaut. Außerdem gibt es eine Schule, einen Kindergarten und ein Haus für jede Familie. Viel von dem, was die Kolonie benötigt, wird hier produziert. Sie bauen Nahrung an, nähen ihre eigenen Kleider und stellen Dinge wie Seife her.

Frauen und Männer essen getrennt

Auch ihre Häuser bauen die Hutterer selbst. Konservative Tradition und modernes Hightech-Leben liegen dabei nah beieinander. Im Kuhstall werden die Tiere vollautomatisch gemolken, den Boden putzt ein Roboter des Düsseldorfer Herstellers Gea. In der blitzsauberen Großküche reinigen sich die Öfen selbst. Im benachbarten Essensraum wird nach Geschlechtern getrennt gegessen: die Frauen mit langen Kleidern und bedeckten Haaren links, die Männer mit ihren Hosenträgern, Hemden und Mützen rechts.

Auch im Alltag wird streng zwischen der Arbeit für Männer – Landwirtschaft, Bau, Führung der Kolonie – und Frauen – Küche, Gärtnerei, Nähen, Haushalt – getrennt.

Die Farmen der Hutterer zählen zu den größten und modernsten in Kanada. Einem 2019 im Fachjournal „Agricultural History Society“ veröffentlichten Bericht zufolge produzieren Hutterer-Kolonien im Bundesstaat Alberta 80 Prozent der Eier, 33 Prozent des Schweinefleischs und mehr als zehn Prozent der Milch. Ihre Struktur als Gütergemeinschaft bietet dabei einen Vorteil, den andere Farmer als ungerecht beklagen: Sie haben keine Lohnkosten.

Doch die Balance zwischen Bewahren und Anpassung ist nicht immer einfach. Für viele Kolonien stellt die Allgegenwärtigkeit von Smartphones und sozialen Medien ein neues Dilemma dar. Denn die können Inhalte in die abgeschotteten Kolonien tragen, die sich nicht mit den religiösen Werten der Hutterer vereinbaren lassen.

Jungs ab 18 Jahren bekommen ein Handy – als Arbeitsgerät

In der „Spring Point Colony“ gibt es deshalb feste Regeln für den Besitz eines Smartphones. Die Übergabe läuft immer gleich: Wenn ein Junge 18 Jahre alt wird, erklärt ihm der Priester die Sitten und Unsitten der Smartphone-Nutzung. Dass es als Arbeitsgerät genutzt werden soll – zum Beispiel, um Fahrten in die Stadt zu organisieren. Dass es nicht der Unterhaltung dienen soll – zum Beispiel zum Anschauen von Filmen aller Art. Danach bekommt der Junge ein eigenes Telefon. Bezahlt wird es von der Kolonie. Die Mädchen bekommen offiziell keins, „noch nicht“.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie sich häufig trotzdem eines besorgen. „Wie ein alter Pfarrer einmal sagte: Wir können nichts dagegen tun, die Telefone sind da. Das Einzige, was wir tun können, ist unsere jungen Leute vor dem Schaden warnen, der droht, wenn sie missbräuchlich genutzt werden“, sagt George Walter, Matilda Walters Ehemann und Finanzchef der Kolonie.

Jede Kolonie entwickelt dabei eigene Regeln, die sich stark voneinander unterscheiden können. Denn die Hutterer sind keine einheitliche Gemeinschaft. Es gibt drei Untergruppen mit unterschiedlicher Ausrichtung: Am konservativsten sind die Lehrerleut. Darüber hinaus gibt es noch Dariusleut („Spring Point Colony“ ist eine Dariusleut-Kolonie) und die liberaleren Schmiedeleut.

Ich habe Youtube entdeckt, als ich in der Schule war
Giselle Waldner

In einer Schmiedeleut-Kolonie in der kanadischen Provinz Manitoba macht die 25-jährige Giselle Waldner etwas, das in Spring Point nicht möglich wäre: Sie bloggt auf Youtube über ihr Leben als Huttererin. „Ich habe Youtube entdeckt, als ich in der Schule war“, sagt sie in einem Videocall. „Während meiner Pausen und in meiner Freizeit habe ich mir ihre Videos angeschaut. Ich war fasziniert, wie sie ihr Leben präsentieren.“

Seit 2020 führt sie die Zuschauer durch ihren Alltag, zeigt die Arbeit im Garten und in der Küche oder erklärt Traditionen wie hutterische Hochzeiten. Rund 28 000 Menschen haben ihren Kanal abonniert. In Giselles Kolonie sind Smartphones und Laptops weit verbreitet, die Frauen organisieren ihre Arbeit über einen Whatsapp-Kanal. Doch als sie damit begann, Videos hochzuladen, stieß sie auf Missfallen. „Es war schwierig für die Leute“, sagt sie. „Ich denke, es liegt daran, dass Youtube eine so neue Sache ist. Es hat eine Weile gedauert, bis die Menschen das Konzept verstanden haben.“

Dabei möchte Giselle Youtube nutzen, um mehr Verständnis für ihre Gemeinschaft zu schaffen. Ihren Kanal startete sie während der Pandemie, als die Schlagzeilen voll waren mit Covid-Ausbrüchen in einigen Kolonien. In den Städten weigerten sich einige Geschäfte daraufhin, Hutterer zu bedienen, ihnen schlug viel Ablehnung entgegen. „Die Menschen haben uns diskriminiert. Ich wollte zeigen, dass das damit zusammenhängt, dass sie uns vielleicht nicht gut kennen und nicht viel über uns wissen“, sagt die 25-Jährige.

In ihrer Kolonie herrschte damals ein strenger Lockdown. In ihrem ersten Video zeigt sie unter anderem die geschlossene Schule. Giselle glaubt nicht, dass neue Technologien die Traditionen der Hutterer gefährden. Obwohl die Mitglieder ihrer Kolonie Smartphones und Laptops besitzen, haben die Geräte das Sozialleben nicht übernommen. Die Abende werden gemeinsam verbracht: zum Beispiel mit Schlittenfahren im Winter, Kajakfahren im Sommer oder am Lagerfeuer.

Viele junge Hutterer verlassen ihre Kolonien für eine Weile, wenn sie erwachsen werden. Die meisten kehren irgendwann zurück. Auch George und Matilda Walter sind optimistisch, dass es ihnen gelingen wird, ihre Kultur zu bewahren. „Wir wurden in 1536 gegründet“, sagt George Walter. „Wenn unsere Gemeinschaft nicht das richtige Fundament hätte, wäre sie vor langer Zeit verfallen.“