In der DDR mussten Zehntausende politische Gefangene Zwangsarbeit leisten. Viele Unternehmen profitierten davon, auch Ikea. Unter welchen Bedingungen die Häftlinge arbeiten mussten, weiß Redakteur Harald Stutte – er war einer von ihnen.
Zwangsarbeit in der DDRWie ich als politischer Gefangener im DDR-Knast für Ikea schrauben musste
Ich hatte von Ikea noch nie etwas gehört – damals, im Februar 1985. In der DDR gab es weder das schwedische Gute-Laune-Möbelhaus noch Bällebad oder Köttbullar. Aber ich habe für Ikea gearbeitet, ohne es zu wissen. Für lau, also ohne Bezahlung. Aber dazu später.
Nach dem Abitur im Sommer 1984 habe ich, damals 19‑jährig, versucht, die DDR zu verlassen. Ich empfand das Land als ein gigantisches Gefängnis. Im Selbstverständnis dieser Diktatur war das eine schwere Straftat. Allein schon der geäußerte Wunsch, wegzugehen, galt als Vergehen, „im schweren Fall“ drohten nach Paragraf 213 Haftstrafen von bis zu acht Jahren.
Ich wurde also im „letzten Sommer“ meiner Jugend, danach drohte Militärdienst, beim dilettantischen Versuch, bulgarische Fischer für eine Handvoll Dollar zu überreden, mich in die Türkei zu schippern, verhaftet und zur irrwitzigen Strafe von 22 Monaten Haft verurteilt. Nach einem halben Jahr in der Leipziger Untersuchungshaft des Ministeriums für Staatssicherheit kam ich im Februar 1985 in den „normalen“ DDR-Strafvollzug, in ein Gefängnis in der sachsen-anhaltinischen Stadt Naumburg. Dort leistete ich Zwangsarbeit.
Doch was bedeutet das? Gab es tatsächlich einen Zwang zur Arbeit? Ich habe mir damals diese Frage nicht gestellt, weil bekannt war, was jenen drohte, die sich weigerten – oder sich in eine Art Bummelstreik retteten: Aufenthalt in Arrestzellen zum Beispiel, im schweren Fall mit Fixierung, was Ankettung bedeutete.
Also fügte ich mich, ich war einer der Jüngsten, hatte einfach nur Angst, in den „Katakomben“ dieses Systems unter die Räder zu geraten. Denn als in Ostdeutschland sozialisierter Mensch wusste ich über dieses System nicht viel, nur das eine ziemlich gut: Sie können mit dir machen, was sie wollen. Sie entschieden auch, wo, was und wie viel wir Abgeurteilten zu arbeiten hatten.
Wecken durch knarzende Lautsprecher
Ein normaler Tag begann für die Eingesperrten in Naumburg zu nachtschlafender Zeit mit dem Wecken durch knarzende Lautsprecher. In einem Beitrag des MDR habe ich gelesen, dass da laute Musik gespielt wurde – daran erinnere ich mich nicht mehr. Nur, dass es von null auf 100 hektisch wurde. Dann hieß es, fix waschen, Frühstück fassen, zumeist Graubrot mit Marmelade und Malzkaffee. In ausgemusterten und umgefärbten ehemaligen Armeeuniformen stellten wir uns Minuten später in der Dunkelheit eines eisigen Wintermorgens auf dem Appellplatz auf. Zwei oder drei alte Ikarus-Busse mit vergitterten Fenstern standen etwas abseits mit laufendem Motor, bliesen ihre Dieselmotorenschwaden in die Luft.
Jeder Häftling wurde in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen, musste „hier“ sagen und bestieg den Bus. Sitzplätze waren für Alpha-Tiere, Langzeithäftlinge, bestimmt und mussten sich durch Aufenthaltsdauer oder das Faustrecht verdient werden. Ich hatte zu stehen, sonst gab es Ärger.
Dicht gedrängt wurden wir eine kurze Strecke durch die Stadt zum Volkseigenen Betrieb Metallwaren Naumburg in der Kösener Straße im Westen gekarrt. Ich habe all diese geografischen Details erst im Nachhinein recherchiert, damals gab es keinerlei Informationen. Fragen wurden nicht beantwortet - und weil man das als DDR-Mensch kannte, stellte man sie erst gar nicht. Wir waren Teil einer Masse, die sich wie im Autopilotmodus bewegte.
In einer Fabrikhalle wurde ich an eine Maschine gesetzt und hatte im Akkord Scharniere zu vernieten. Monatlich bekam ich dafür 110 Mark DDR-Knastgeld gutgeschrieben, aber nur einen Teil davon ausbezahlt. Das konnte man dann in einem erbärmlichen Laden ausgeben, in dem es außer Kuchen, Zahnpasta oder Zigaretten kaum etwas gab.
Zunächst ausgestattet mit Gehörschutz und Schutzbrille hatte ich in immer gleichen Handgriffen eine Norm an einer Maschine zum Vernieten zu erfüllen: Die linke Hand legte das eine Teil eines Türenscharniers in einen Werkzeugschlitten, die rechte Hand das andere Teil, dazwischen legte ich eine kleine Metallspange und ‑feder. Dann schnell mit beiden Händen links und rechts Knöpfe bedient, sodass ein maschineller Stanzhammer niedersauste und die Einzelteile mit drei Nieten fixierte. Wie alle, die mit mir dort arbeiteten, legte ich nach kurzer Zeit die Schutzbrille beiseite, weil man durch sie nichts sehen und so unmöglich die Teile des Scharniers passgenau in die Vorlage legen konnte. Hatte ich eines der drei Teile nicht passgenau in die Vorlage gelegt - was mitunter geschah - dann konnte es passieren, dass die Nieten die vorgefertigten Löcher verfehlten und durch die Gegend pfiffen wie kleine Geschosse. Das hätte wiederum aufgrund der fehlenden Schutzbrille böse ausgehen können.
Drei Tage die Norm verfehlt
In den ersten Tagen stellte ich mich ziemlich ungeschickt an. Ich, direkt von der Schulbank, hatte keine Erfahrung mit solchen Jobs. Wir waren in Brigaden organisiert, die stets von kriminellen Straftätern geleitet wurden. Wir „Politischen“ waren ihnen ausgeliefert, bildeten in diesem Gefängnis aber deutlich die Mehrheit. Als ich drei Tage trotz größter Anstrengung die vorgeschriebene Stückzahl nicht erreichte, kündigte mir der Brigadier Ärger an, weil der ganzen Gruppe der Entzug von Privilegien drohte – keine Kinovorführung am Sonntag zum Beispiel. Schlimmer noch: der Entzug von „Impe“, wie ein schrecklich schmeckender, brauntrüber Schwarztee genannt wurde. Der war die heimliche Währung im Gefängnis, war Alkohol- und Drogenersatz, Tauschware, Prämie, Genuss- und Bestechungsstoff. Ich habe es nie verstanden, aber alle mochten das Gebräu, das einige Zivilangestellten im Möbelwerk Inhaftierten als Belohnung zusteckten. Von Kaffee durfte nur geträumt werden.
Den angedrohten Ärger konnte ich umgehen, weil neben mir Mithäftlinge arbeiteten, die bereits mehr Routine im Akkordnieten besaßen, fertige Scharniere aus ihren Kisten in meine schmuggelten, sodass wir am Ende alle die Norm schafften. Manchmal bluteten mir die Finger, wundgerieben am scharfen Grat der vernickelten Metallteile. Unterbrochen wurden die endlos langen Schichten per Pausensignal. Dann gab es Essen, zumeist einen unappetitlichen Fraß, an dessen Einzelheiten ich mich aber nicht mehr erinnere. Besser war die nächtliche Mahlzeit, wir wechselten wochenweise die Schichten. Dann gab es eine Art Zwiebelsuppe mit Schmalzbroten, in meiner Erinnerung war das ganz lecker.
„Nur Stehen ist billiger“
Was ich damals nicht wusste – und erst viel später erfahren sollte: Die emsige Möbelproduktion war für den schwedischen Gute-Laune-Konzern Ikea („Das unmögliche Möbelhaus“) bestimmt. 1974, nach Eröffnung der ersten Filiale in Eching bei München, war Ikea in Deutschland schnell groß geworden, damals warb man mit dem Slogan „Nur Stehen ist billiger“. Kein Wunder, dass „nur Stehen billiger war“, weil Menschen wie ich ja „saßen“ und preiswert Zwangsarbeit verrichteten.
Die Zeit als Zwangsarbeiter endete für mich nach acht Monaten Ende September 1985 mit dem Freikauf durch die Bundesrepublik – 13,5 Monate nach meiner Inhaftierung. Meine erste eigene Wohnung in Hamburg stellte ich mir ganz selbstverständlich mit Ikea-Möbeln zusammen. Im damaligen Ikea-Standort Kaltenkirchen kaufte ich Billy-Bücherregale, einen Schreibtisch - den ich bis heute besitze - und Ivar-Schränke. Gut möglich, dass sich die Türen dank eines der von mir zusammengenieteten Scharniere öffneten. Ich hätte es wohl nicht gemerkt.
Denn erst vor etwa zwölf Jahren wurde erstmals bekannt, dass Ikea Artikel verkauft hatte, an deren Produktion politische Häftlinge in der DDR beteiligt waren. Das Unternehmen leitete eine unabhängige Untersuchung dazu ein. Lange passierte nichts. Umso überraschender, dass sich Ikea Ende Oktober 2024 seiner Verantwortung als ehemaliger Profiteur von DDR-Zwangsarbeit gestellt hat – denn das Thema war längst aus den Schlagzeilen verschwunden. Die Schweden sind bislang auch das einzige Unternehmen, das ganz konkret auch zur Einrichtung eines Härtefallfonds bereit ist.
Rund 250.000 politische Häftlinge
Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft geht von rund 250.000 politischen Häftlingen aus, die es in der 40‑jährigen Geschichte der DDR gab. „Ab den 1950er Jahren bis zum Ende der DDR wurden jedes Jahr 15.000 bis 30.000 Häftlinge zur Arbeit gezwungen und vor allem in solchen Bereichen eingesetzt, in denen zivile Arbeitskräfte aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen nicht arbeiten wollten“, heißt es in einer im April 2024 veröffentlichte Studie der Berliner Humboldt-Universität Berlin.
Von der in ostdeutschen Gefängnissen geleisteten Zwangsarbeit profitierten neben Ikea vor allem deutsche Unternehmen wie Quelle, Otto, C&A, Siemens oder der Discounter Aldi, dessen milliardenschwere Gründerbrüder Karl Albrecht und Theo Albrecht jahrzehntelang das Ranking der reichsten Deutschen anführten. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat bei den betroffenen Unternehmen nachgefragt:
„Aufgrund des großen zeitlichen Abstands zu den Vorkommnissen können jedoch die Details aufseiten der beiden Unternehmensgruppen ‚Aldi Nord‘ und ‚Aldi Süd‘ nicht mehr nachvollzogen werden“, heißt es in einem Statement des Discounters. „Beide Unternehmensgruppen verfolgen deshalb das Thema, können sich jedoch nicht an der politisch-gesellschaftlichen sowie historischen Aufarbeitung beteiligen“, so darin weiter.
Von Siemens heißt es, „Recherchen im unternehmenseigenen Archiv haben gezeigt, dass es keine Dokumente gibt, die eine derartige Verwicklung von Siemens nahelegen“. „Eine sachfundierte und faktenbasierte Einordnung und Beurteilung zur Rolle von Siemens wird daher erst nach intensiven Recherchen in externen Archiven möglich sein“, ist in der Mitteilung des Technologieunternehmens zu lesen.
Die „Otto-Group“, Markenrechte-Inhaber auch von „Quelle“, könne zu „früheren Handlungen der Quelle-Gruppe ... keine Auskunft geben“. Was den damaligen Otto-Versand betrifft, so seien im Ergebnis der „intern die wenigen noch vorhandenen Unterlagen gesichtet“ worden, zudem nach „Recherchen in externen Archiven (...) keine Belege gefunden worden, die eine Beteiligung von Häftlingen an der Erstellung von Waren nachgewiesen haben, die über den damaligen Otto-Versand vertrieben wurden“.
Der Autor hat seine Jugend in der DDR, auch die Haftzeit nach einem Fluchtversuch, in dem 2023 erschienen Buch „Wir wünschten uns Flügel“ (Rowohlt) beschrieben.