Tim Heitlang hat monatelang in der Antarktis überwintert. Ein Gespräch über Strategien gegen Müdigkeit, die Schönheit von Finsternis und Kälte.
„Dunkelheit hat nichts Bedrohliches“Antarktis-Expeditionsleiter gibt Tipps gegen den Winterblues
Tim Heitland ist ausgebildeter Chirurg und hat von 2016 bis 2018 in der Antarktis überwintert, auf der Neumayer-III-Forschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), auf 200 Meter dickem Schelfeis. Darunter: Wasser.
Heute ist Heitland Expeditionsleiter und fährt auch in der Sommersaison immer wieder in die Antarktis. Am AWI hat er mehrere Aufgaben: Er ist medizinischer Koordinator der Expeditionen – beispielsweise für die Forschungsstationen Neumayer III und auf Spitzbergen sowie dem Forschungsschiff „Polarstern“. Er ist verantwortlich für die Überwinterung in der Antarktis und er kümmert sich um die Ausbildung des Teams.
Herr Heitland, wie abgeschnitten ist die Neumayer-Station in der Antarktis vom Rest der Welt?
Tim Heitland: Das kommt auf die Jahreszeit an. Unsere Station ist ganzjährig besetzt. Im Sommer sind bis zu 50 Leute dort. Schiffe kommen da hin, Flugzeuge auch. Ganz anders im Winter: Der dauert gute acht Monate. Neun Leute bleiben zurück und sind komplett abgeschnitten vom Rest der Welt. Flugzeuge und Schiffe kommen nicht mehr durch, weil das Meereis zu weit zugeht. Wer bleibt, ist wirklich auf sich gestellt.
Sie haben als Arzt auf der Neumayer-III-Forschungsstation in der Antarktis überwintert. Wie sieht eine medizinische Versorgung aus, wenn man nicht mal eben zur hausärztlichen Praxis spazieren kann?
Unfälle können immer passieren. Im Notfall kommen wir nicht weg von der Station. Aber wir haben da ein kleines Hospital und können auch richtig operieren. Im Fall einer OP würde die Anästhesie-Anleitung telemedizinisch vom Festland aus zugeschaltet. Wir haben unter anderem Ultraschall, digitales Röntgen, Zwölfkanal-EKG, eine Zahnbehandlungseinheit, können Blutwerte im Labor bestimmen. Wir sind für eine Polarexpedition super ausgestattet.
Was bringt Sie dazu, immer wieder in Kälte und Dunkelheit zu arbeiten?
Die Faszination für das, was wir machen. Wissenschaft ermöglichen an einem extremen Ort. Daten sammeln, die es sonst so nicht geben würde. Das Glück, mit einem Team hoch motivierter Expertinnen und Experten zusammenarbeiten zu können. In einer absolut einzigartigen und wunderschönen Umgebung. Die Natur, das Wetter. Während der Überwinterung insbesondere auch die Polarnacht.
Wie kann man sich das vorstellen?
Acht Wochen geht die Sonne gar nicht mehr auf. In den mittleren Wochen wäre es pechschwarz da draußen, wenn es nicht diesen unfassbaren Sternenhimmel und die Polarlichter geben würde. In den Wochen vor und nach der Polarnacht ist es auch schon relativ dunkel. Es gibt diesen einen Moment – wenn die Sonne gerade untergegangen ist. Dann zeigt sich der Himmel in Rosa, Rot, Lila, allen möglichen Farben.
Die Dunkelheit über Wochen hinweg betrübt Sie nicht?
Die Dunkelheit hat für mich nichts Bedrohliches und Düsteres. Ganz im Gegenteil: ohne Finsternis kein Sternenhimmel. Die Milchstraße, die Magellanschen Wolken. Das ist wirklich atemberaubend. So etwas kann man so vielleicht nirgendwo sonst auf der Welt sehen. Es gibt keine Lichtverschmutzung. Es gibt auch nichts, was in der Optik stünde. Wir sehen Sterne von Horizont bis Horizont. In unserem Teil der Antarktis steht kein Baum, kein Berg, kein Haus. Wir sind mutterseelenalleine im weiten, flachen Eis.
Wer sind die nächsten Nachbarn?
Das ist eine südafrikanische Forschungsstation. Die ist aber auch schon über 250 Kilometer weit entfernt. Auch da sitzen nur ein paar Menschen in einem kleinen Haus. Einsam fühle ich mich auf Station aber nicht. Im Gegenteil: Ich fühle mich total wohl und geborgen.
Wie erklären Sie sich das?
Seefahrer bauen eine extrem starke Bindung zu ihren Schiffen auf, weil das für sie ein Zuhause und der Ort des Überlebens ist. Das ist bei der Neumayer-Station auch so. Ohne sie kann man in der Antarktis kaum überleben. Das ist der sichere Hafen, die rettende Insel. Das Leben dort ist einfach, aber schön. Wir haben einen großartigen Blick über das Eis.
Gibt es etwas, was Sie im Eis vermissen?
Das sind natürlich die Menschen, die ich nicht mitnehmen kann. Ich vermisse auch Tomaten. Während der Überwinterung gehen uns natürlich nach und nach die Frischwaren aus.
Wenn Sie nach so einer Expedition zurückkehren, können Sie der dunklen Jahreszeit hierzulande auch etwas abgewinnen?
Eine Matschphase begeistert mich nun auch nicht, da geht es mir ähnlich wie vielen Menschen. Sobald das Wasser fest wird, ist es aber super. Kommt der Regen als Schnee herunter, bleibt der dann noch liegen – perfekt. Nun haben wir gerade in Norddeutschland nicht oft und lang eine durchgehende Schneedecke. Aber ich freue mich über jede, die ich sehe.
Dunkelheit, lange drinnen und am selben Ort sein, das kann auch auf die Psyche schlagen. Wie bereiten Sie und Ihr Team sich auf eine monatelange Expedition in der Antarktis vor?
Wir beschäftigen uns aktiv mit unserer Erwartungshaltung. Das an sich ist auch schon eine Strategie. Man muss wissen, worauf man sich einlässt. Wenn klar ist, dass keine karibischen Umstände zu erwarten sind, kann man damit gut umgehen. Man muss viel Energie aufwenden, um sich selbst Strukturen im Tag zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Wir machen uns bewusst: Das ist eine Phase, die für uns und den Körper anstrengend ist. Denn der äußere Rhythmus geht verloren.
Inwiefern?
Das Tageslicht gibt einem das Leben ein Stück weit vor. Fällt der dadurch vorgegebene Rhythmus weg, werden die meisten Menschen müde und weniger motiviert. Weiß man darüber Bescheid, kann dieser Zustand erträglicher sein. Eine Aufgabe haben, das hilft auch. Wir müssen während der Polarnacht die Forschung und die Station am Laufen halten. Essen kochen, Wäsche machen. Und wir wissen: Das Licht kommt wieder.
Können Sie sich während der Polarnacht besser auf Ihre Forschung konzentrieren?
Die Forschung ist unsere Daseinsberechtigung. Es gibt immer etwas zu tun. Der Forschung ist es egal, ob die Sonne scheint oder nicht. Wir sammeln Wissen, Daten, machen Langzeitbeobachtungen, die zum Beispiel in internationale Wettermodelle einfließen. Alle drei Stunden observieren unsere Meteorologinnen und Meteorologen das Wetter. In der Luftchemie werden Aerosole und Gase wie Methan, Ozon, Kohlendioxid gemessen. Unsere Geophysikerinnen und Geophysiker messen Eis- und Erdbeben, das Magnetfeld der Erde. Unser technisches Team sorgt dafür, dass wir Strom und Licht auf Station haben. Wichtig ist uns auch, dass wir eine gemeinsame Mahlzeit am Tag zusammen einnehmen.