Drogen, Alkohol, Spielsucht Co‑Abhängigkeit„Alles dreht sich nur noch um die andere Person“

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Es gibt sehr viele alkoholkranke Menschen in Deutschland.

Es gibt sehr viele alkoholkranke Menschen in Deutschland – und noch mehr betroffene Co-Abhängige.

Psychotherapeut Jens Flassbeck erklärt im ausführlichen Interview, was es bedeutet, co‑abhängig zu sein – und wie Betroffene Hilfe finden.

Wer mit einer abhängigen Person zusammen ist, dessen Gedanken kreisen oft nur noch um das Wohlbefinden des anderen. Jens Flassbeck, psychologischer Psychotherapeut und Autor, erläutert, was es bedeutet, co‑abhängig zu sein – und wie Betroffene Hilfe finden.

Herr Flassbeck, wenn man mit einem suchtkranken Partner oder einer suchtkranken Partnerin zusammenbleibt, obwohl man selbst darunter leidet: Fördert man dann die Sucht des Partners oder der Partnerin?

Nein. Angehörige unterstützen Suchtkranke nicht darin, süchtig zu bleiben. Dass Co‑Abhängigkeit ein suchtförderndes Verhalten ist, ist ein alter Mythos. Die meisten Angehörigen kümmern sich kompetent um die Betroffenen. Es gibt nur ein suchtförderndes Verhalten: Suchtmittel zu konsumieren.

Aber wenn man Drogenabhängigen dabei hilft, nicht die Kontrolle über das Leben zu verlieren, den Job oder das Haus zu behalten, dann können sie doch weitermachen wie bisher? Das co‑abhängige Verhalten wirkt doch dann unterstützend?

Hier würde ich von Begünstigung sprechen – sonst schieben wir den Angehörigen am Ende noch die Schuld in die Schuhe. Wenn die Angehörigen sich nicht um den Suchtkranken kümmern würden, würde die Situation noch mehr eskalieren. Es ist also gut, dass jemand sich kümmert, das würde man bei einer körperlichen Erkrankung ja auch tun. Die Suchthilfe wäre andernfalls auch komplett überfordert. Abgesehen davon motiviere ich Angehörige natürlich dazu, ihre eigenen Grenzen zu wahren und sich ein Stück weit aus der Hilfe für den Suchtkranken zurückzuziehen.

Formen der Co‑Abhängigkeit können auch in Beziehungen ohne Suchtkrankheiten auftauchen. Wie äußert sich das Phänomen generell?

Co‑Abhängigkeit bedeutet, dass sich eine Person nur noch um eine andere dreht, dass sie emotional und kognitiv völlig davon eingenommen ist. Ein typisches Beispiel aus der Praxis: Wenn ich eine Person, die sich in der Hilfe für einen Suchtkranken verstrickt hat, frage, wie es ihr geht, antwortet sie umfangreich, was mit dem Suchtkranken los ist, sie sagt aber kaum etwas über sich.

Ich denke da etwa an eine Klientin, die mit einem Suchtkranken verheiratet war. Sie saß nur noch zu Hause und hat ihm ständig hinterhertelefoniert. Sie hat ihre Freunde vernachlässigt und hatte keine Hobbys mehr. Sie hat sogar ihren Job aufgegeben, um nur für ihn da zu sein und ihn vom Konsum – er war spielsüchtig – abzuhalten. Sie ist darüber total depressiv geworden und kam völlig erschöpft und voller Ängste in die Therapie.

Das ist ein härteres Beispiel?

Nein, härtere Beispiele sind Kinder aus Suchtfamilien, Menschen, die Kindheitstraumata erlebt haben, die etwa in einer Suchtfamilie aufwachsen und emotional oder sexuell missbraucht worden sind und als Erwachsene wieder zu Opfern werden.

Ich unterscheide hier drei Ebenen. Erstens: Nicht jeder, der einem Suchtkranken hilft, verstrickt sich – allerdings ist das Risiko erhöht, denn es entsteht auf jeden Fall eine Einseitigkeit. Zweitens kann man sich problematisch verstricken – mit diversen Folgen. Wenn sich nun jemand jahrelang um einen Suchtkranken kümmert, erhöht sich das Risiko, selbst psychisch zu erkranken, drastisch. Oft laufen Menschen mit einer hohen Freundlichkeit und labilem Selbstwertgefühl Gefahr, den Manipulationen von Suchtkranken zum Opfer zu fallen. Menschen mit Helfersyndrom polieren ihr Selbstwertgefühl über Hilfsbereitschaft auf und sind besonders gefährdet.

Ist es für helfende Angehörige ein Unterschied, ob jemand alkohol- oder spielsüchtig ist?

Nein, die Stärke der Verstrickung – das ständige Helfen und Geben – ist unabhängig von Suchtmitteln oder einer verhaltensbezogenen Sucht. Ein Spielsüchtiger häuft eher Schulden an, ein Alkoholiker hat eher mit gesundheitlichen Problemen zu tun.

Welche Faktoren begünstigen Co‑Abhängigkeit? Die Therapeutin Darnele Lancer sagt, Co‑Abhängigkeit sei angelernt, stimmt das?

Bestimmte Bedingungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand verstrickt: Die Biografie und angelernte Verhaltensmuster zählen dazu. So ist erwiesen, dass Töchter aus Suchtfamilien ein erhöhtes Risiko haben, sich als Erwachsene ebenfalls in einer Beziehung mit einem Suchtkranken zu verstricken. Auch Rollenklischees sind von Belang. Frauen erhalten eher den gesellschaftlichen Auftrag, für die Fürsorge zuständig zu sein. Sie nehmen ihn auch eher an. Dazu gibt es keine Forschungsergebnisse, aber das ist meine klinische Beobachtung: In den letzten 20 Jahren waren fast nur Frauen wegen Co‑Abhängigkeit bei mir in Therapie. Nur ein paar Männer waren darunter. Sie können sich besser abgrenzen.

Die Betroffenen wiederholen also das Modell der Herkunftsfamilie?

Genau. Man kann annehmen, dass Söhne eher suchtkrank und Töchter eher psychisch krank werden, dass Töchter also – so, wie sie es von zu Hause kennen – eine Beziehung mit einem Suchtkranken eingehen, während Söhne ihre biografische Erfahrung mit einer co‑abhängigen Frau wiederholen. Man nennt dies die transgenerationale Weitergabe.

Die erwachsenen Kinder spielen das Paarmodell der Eltern nach?

Ja. Das ist ein Bewältigungsmuster, eine Überlebensstrategie und ein Lernverhalten. Typisch ist die Verteilung suchtkranker Vater, depressive Mutter. Hier findet die Tochter das Modell vor, sich für einen Suchtkranken aufzuopfern. Oder es liegt der Fall vor, dass beide Eltern suchtkrank sind. Da erhalten die Kinder häufig den familiären Auftrag: „Kümmere dich um deine kranken Eltern.“ Und dann tun sie das – auch schon im Alter von sechs Jahren.

Abhängigkeit gehört in Partnerschaften dazu. Woran erkennt man toxische Tendenzen?

Co‑Abhängigkeit kann ausschließlich dort entstehen, wo ein Suchtkranker uneinsichtig chronisch krank ist und er sein zerstörerisches Verhalten gar nicht ändern will. Das heißt: Nicht jeder verstrickt sich in einer Beziehung mit einem Suchtkranken. Und nicht jeder Suchtkranke ist uneinsichtig, was seine Situation angeht. Ein Einsichtiger erkennt ja, dass er etwas ändern muss. Umgekehrt wird jemand, der psychisch gesund ist, nicht in einer Beziehung mit einem Suchtkranken bleiben. Der wird sich aus so einer Situation retten.

Ist es für Verstrickte üblich, ständig Entschuldigungen für das Verhalten des Erkrankten zu finden?

Ja. Angehörige kommen da nicht so einfach raus. Das Thema Sucht ist sehr schambehaftet und stigmatisiert. Und Angehörige haben immer den doppelten Schaden. Sie müssen erst mal den Mut finden, sich anderen gegenüber mitzuteilen, obwohl sie sich schämen. Und wenn sie es tun, fällt meist unter den Tisch, dass sie selbst ebenfalls Hilfe brauchen.

Wie helfen Sie?

Zunächst einmal geht es ums Zuhören und um die Frage, wie es den Betroffenen geht. Landläufig wird immer gerne zu den Betroffenen gesagt: „Trenn dich!“ Das eigene co‑abhängige Thema ist damit nicht erledigt. Typisch ist, dass viele Frauen zehn, 20 oder sogar 40 Jahre in so einer Beziehung verstrickt sind. Wenn sie sich trennen, brechen sie zusammen. Sie haben sich Jahrzehnte lang um einen anderen gekümmert, das war ihr stabilisierendes Muster. Plötzlich sind sie allein und fragen sich: „Was habe ich mir da eigentlich angetan?“

Wann ist eine Trennung nötig?

Sobald Übergriffe stattfinden, rate ich zur Trennung – und diese finden in Beziehungen mit Suchtkranken sehr häufig statt. In anderen Fällen geht es ums Abgrenzen, darum, zu lernen, Nein zu sagen und das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Für Betroffene aus Suchtfamilien, die ohne andere Bezugspersonen aufgewachsen sind, ist das ganz schwierig. Angehörige, die hingegen nicht aus einer Suchtfamilie stammen, haben meist Ressourcen, auf die sie zurückgreifen können.

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