Die AusgebremstenAbi machen im Corona-Jahr – vier Kölner Schüler erzählen
Köln – Als im vergangenen Jahr das Abitur anstand, hatte man schon Mitleid mit den Schülerinnen und Schülern: Keine Abifahrt, kein Abiball, keine feierliche Zeugnisvergabe wegen Corona. Niemand hätte für möglich gehalten, was den Abiturienten ein Jahr später passieren sollte: Das gesamte letzte Schuljahr ohne normalen Unterricht, mal in Präsenz, mal online lernen, Klausuren mit Maske, ebenfalls kein Abiball und keine Abifahrt und keine Ahnung, wie es nach dem Abi weiter gehen soll.
Dazu die Probleme, die alle seit Corona haben: keine Hobbys, keine Freunde, keine Reisen, keine Partys. Wie verkraftet man es mit 19, immer nur zu Hause in seinem Zimmer zu sein und ständig die Eltern um sich zu haben? Wie geht man damit um, an der Schwelle zu einem ganz neuen Lebensabschnitt zu stehen und nicht zu wissen, ob man normal studieren oder arbeiten kann? In welche Richtung das neue, große Leben gehen kann?
Wir haben Lilly Grönert, Charlotte Felgner, Tim Steinhaus und Tom Ehlert von der Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule in Köln-Longerich zwei Monate lang auf dem Endspurt zum Abitur begleitet. Die Vier sind befreundet, Tom und Lilly sind ein Paar. Getroffen haben wir sie nach den Vorabiklausuren, nach der letzten normalen Schulwoche und Mottowoche, nach den Osterferien und nach ihrer ersten Abiturklausur. Mal im Park, mal an der Schule und auch in ihren Zimmern, wo sie so viel Zeit verbracht haben.
Jedes Mal zeigte sich, wie nötig es war, immer wieder in kurzen Abständen nachzufragen, wie es ihnen geht. Ständig gab es neue Regelungen und Geplantes wurde wieder umgeworfen. Mitten in der heißen Lernphase tauchte der Vorschlag auf, die Prüfungen gar nicht stattfinden zu lassen, sondern nur eine Durchschnittsnote zu ermitteln. Das einzig Verlässliche dieses letzten Schuljahres sollte für die Abiturienten die Ungewissheit sein.
Alles ändert sich ständig – Kein normales letztes Schuljahr
Dass ihr letztes Jahr in der Schule für Lilly, Charlotte, Tim und Tom anders laufen wird als normal, zeichnet sich bereits in der 12. Klasse ab. Aber keiner von ihnen erwartet im vergangenen Sommer, dass alles noch schlimmer werden wird. „Wir haben den Jahrgang vor uns gesehen und einfach gehofft, dass wir normal Abi machen können. Und jetzt sitzen wir hier seit einem Jahr im Lockdown“, fasst Charlotte zusammen.
Als die Schulen im vergangenen März zum ersten Mal schließen, geht es wie wohl überall auch an der Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule chaotisch zu. Man ist auf den Online-Unterricht nicht vorbereitet, die Lehrer nutzen unterschiedliche Systeme, manche Informationen gehen verloren. Eine Zeit lang gibt es Präsenzunterricht, dann müssen alle wieder von zu Hause aus lernen. Dieses Hin und Her hinterlässt schon bald Spuren. „Beim ersten Lockdown habe ich so gut wie nichts gemacht. Weil es nicht bewertet wird, hat man wenig Motivation. Beim zweiten Mal wurde es besser, weil der Unterricht organisierter war“, erinnert sich Tom.
„Mir kam es immer extrem viel vor, was wir aufbekommen haben. Außerdem ist man zu Hause sehr schnell abgelenkt“, sagt Lilly. „Nicht jeder kann ohne eine wirklich vorgegebene Tagesstruktur funktionieren. Trotzdem hat man das Gefühl, dass es heißt: »Die macht dann jetzt mal Abi, ein bisschen Distanzlernen, kein Problem«“, findet Charlotte. Einige Schüler müssen sich noch um jüngere Geschwister kümmern, anderen fehlt die richtige Ausstattung für das Homeschooling. „Das sollte viel mehr beachtet werden“, findet Lilly. „Es macht bestimmt einen Unterschied, ob man in einem Haus wohnt oder in einer Wohnung, wo nicht genug Platz ist. Ich habe letztes Jahr oft gesagt, dass es total toll ist, barfuß über den eigenen Rasen laufen zu können “, sagt Tim, der wie die anderen auch in einem Haus mit schönem eigenen Zimmer wohnt.
Mathelehrerin muss gehen, weil sie keine Maske tragen will
Wenn sie in die Schule dürfen, ist es auch nicht unbedingt einfacher, weil größere Kurse auf zwei Räume aufgeteilt werden und die Lehrer hin und her wechseln. Zudem muss eine Mathelehrerin gehen, weil sie keine Maske tragen will. „Ich war in dem Grundkurs von ihr. Am Anfang hat sie uns noch Aufgaben gegeben. Die haben wir dann gemacht, aber nie besprochen“, erzählt Lilly. Die verschwundene Lehrerin unterrichtet auch Tims Leistungskurs: „Am Anfang war es noch schön, eine Freistunde zu haben, aber irgendwann hätte man dann doch ganz gerne eine Vorbereitung aufs Abi.“
Zu den schulischen Sorgen kommen die emotionalen. Charlotte erinnert sich mit Schrecken an den Winter, „als es ständig dunkel war vom ersten Meeting bis zur letzten Hausaufgabe. Und alles die ganze Zeit in diesem Zimmer. Die Hobbys, die Schule, das Privatleben: alles auf diesen paar Quadratmetern. Dabei noch irgendwie Abi zu machen, wo auch alle zwei Wochen neue Regelungen kommen, ist echt schwierig.“ Lilly fühlt sich sehr verloren und sagt: „Das Ungewisse geht einem so langsam auf die Nerven.“
Fünf Stunden Klausur mit Maske auf
Trotz aller Probleme laufen die Vorabiklausuren bei allen gut. Und das, obwohl sie fünf Stunden lang die Maske tragen müssen und weder essen noch trinken dürfen. Es gibt zwar für jeden eine Maskenpause von 20 Minuten, aber alle nutzen diese zusätzliche Zeit lieber zum Schreiben. „Stundenlang mit den Masken auf ist seltsam. Vom Atmen her geht es, aber irgendwann tut es total weh an den Ohren. Und natürlich bekommt man irgendwann Hunger und Durst“, sagt Tim.
Normalerweise werden die Vorabiklausuren als erster großer Zwischenschritt gefeiert, doch dieses Jahr gehen alle erschöpft zurück in ihre Zimmer. „Natürlich bin ich jetzt erleichtert, aber normalerweise würde man sich ganz anders darüber freuen, und wir hätten zusammen gefeiert. Jetzt sitze ich hier halt wieder alleine“, sagt Charlotte.
Es wird viel darüber diskutiert, ob das Abitur 2021 weniger wert ist oder ob es wegen der besonderen Umstände vereinfachte Prüfungen geben sollte. Lilly hat dazu eine klare Meinung: „Wir wollen nicht, dass das Abi einfacher gemacht wird. Wir wollen, dass es fair ist. Egal, ob es am Ende so bezeichnet wird oder nicht: Wir machen ein Corona-Abitur und jeder hat mitbekommen, wie schwierig das ist.“
Mitten in die heiße Lernphase nach dem Vorabi platzt der Vorschlag von Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Abiturprüfungen gar nicht stattfinden zu lassen, sondern aus den Noten des letzten Jahres einen Durchschnitt zu errechnen. „Diesen Vorschlag ignoriere ich einfach. So eine Idee kurz vor dem Ende macht einen ja noch mehr verrückt“, findet Lilly.
Charlotte hält die Idee für die schlechteste aller Lösungen. Tom würde sich betrogen fühlen, wenn er sein Abitur nicht schreiben dürfte. Tim versucht, gelassen zu bleiben: „Wenn die Klausuren nicht stattfinden, ist es mir auch egal. Ich blicke da nicht mehr durch. Und wenn ich dann dafür gelernt habe: Ich werde mich darüber nicht aufregen.“
Das letzte Mal Sport, das letzte Mal Bio
In der letzten Unterrichtswoche werden die Vier melancholisch. Das letzte Mal Bio mit allen zusammen, das letzte Mal Sportunterricht, das letzte Mal alle Lehrerinnen und Lehrer sehen. Ein komisches Gefühl. „Wir sehen die anderen nur in der Schule. Das ist schade, weil wir uns eigentlich gut verstehen. Aber dadurch, dass wir uns so wenig treffen, fehlt am Ende auch der Zusammenhalt in der Stufe“, glaubt Lilly. In dieser Woche findet auch die Mottowoche statt, natürlich ohne Partys. Trotzdem verkleiden sich alle jeden Tag und genießen die Zeit miteinander. Tim und Tom spritzen Wodka in Capri-Sonne-Tüten, weil man durch den Strohhalm trotz Maske etwas trinken kann.
Obwohl sich alle an die Regeln halten, kommt drei Mal das Ordnungsamt, weil es vor der Schule zu laut ist. Am letzten Abend sitzen ein paar Schüler abends im Park und werden kontrolliert. Alle, „die nicht schnell genug abhauen konnten“, müssen zusammen 250 Euro Strafe zahlen. „Die vom Ordnungsamt haben auch die Fahrräder einkassiert und meinten, dass wir die nicht wieder kriegen, wenn wir unsere Namen nicht sagen. Spaß hatten wir trotzdem“, erzählt Tim.
„Die Motivation ist echt im Keller“
In den Osterferien hängen alle ziemlich durch. „Die Motivation ist echt im Keller, weil es sich so zieht. Normalerweise würde ich in den Ferien etwas mit meinen Freunden unternehmen. Dafür ist der Lockdown natürlich jetzt ganz gut, ich bin weniger abgelenkt. Ab und zu treffe ich mich mit Tom oder gehe mit Lilly laufen“, sagt Tim. Tom findet die Ferien zwar erholsam, aber auch „superlangweilig“. Lilly versucht, ein bisschen zu lernen: „Sonst kann man ja nicht viel machen.“ Ein paar Mal geht sie mit Tom wandern.
Zwei Wochen lang haben die Vier noch Unterricht in den Prüfungsfächern. Am 23. April kommt die erste Abiklausur in Englisch. Als die Vier nach fünf Stunden Schreiben zerzaust und erschöpft aus der Schultür taumeln, platzt es aus Lilly heraus: „Mir kamen vor Überforderung die Tränen, als ich gesehen habe, wie viel das ist.“ Charlotte versteht nicht, wieso sie jetzt plötzlich ein Gedicht analysieren musste: „Ich hatte ganz andere Themen vorbereitet und bekam Angst, dass ich jetzt im Abi sitze und das alles nicht mehr ausgleichen kann.“ Tim und Tom fanden die Klausur ok. Sie wollen jetzt erstmal einen Döner holen und ein Bier trinken. Kurze Pause, dann wird weiter gelernt: Die letzte Klausur ist für den 4. Mai geplant, Ende des Monats folgen die mündlichen Prüfungen. Und dann? „Keine Ahnung, dann falle ich ins Bodenlose“, sagt Tim.
„Mal wieder raus aus Longerich. Mal wieder die letzte Bahn verpassen“
Wenn das Lernen vorbei ist, weiß er nicht so recht, was er tun soll, man kann ja nichts machen. Seit einem Jahr sind die jungen Menschen quasi eingesperrt. „Ich möchte einfach mal wieder irgendwo hinfahren. Mal raus aus Longerich. In der Stadt ausgehen. Entscheiden, ob man um 2 oder um 6 Uhr nach Hause geht. Von mir aus auch die letzte Bahn verpassen. Nachts noch zu McDonalds gehen“, sagt Tim. Tom, der am 1. Mai 19 Jahre alt wird, kann schon zum zweiten Mal seinen Geburtstag nicht feiern. Lilly wollte eigentlich nach Amerika fliegen, um ihre Gasteltern und Freunde vom Austausch vor zwei Jahren zu besuchen. Tim hatte endlich eine Karte für das Parookaville-Festival in Weeze, zu dem er immer schon wollte, aber nie alt genug war: „Als ich endlich 18 war, kam Corona.“
Allen fehlt die Ablenkung, das Unbeschwerte, einfach das Leben. „Den ganzen Tag zu Hause zu sein, fällt extrem schwer. Ich finde es immer schlimm, wenn man Bilder von früher sieht, als alles noch normal war. Wieder alle zusammen sein, das wäre schön“, sagt Lilly. Sie versuchen, sich so oft es geht Corona-konform zu treffen. Als es vergangenen Sommer etwas lockerer war, manchmal auch mit mehreren Leuten aus der Stufe, immer den aktuellen Regeln entsprechend. „Die paar Treffen, die wir hatten, haben richtig Spaß gemacht. Wenn man mal was machen kann, lernt man das richtig zu schätzen“, sagt Tim.
„Ich würde mich sehr auf einen Abiball freuen“
Auch ihre bisher wichtigste Prüfung werden sie nicht gemeinsam feiern können. „Ich würde mich sehr auf einen Abiball freuen, wenn es einen gäbe. Wir wollten eigentlich mit der Stufe nach Barcelona fahren. Wegen Corona wurde das dann reduziert auf Berlin. Und jetzt findet gar nichts statt“, sagt Tom. Wie sie ihre Zeugnisse bekommen, wissen sie auch noch nicht. Gefeiert werden darf auf jeden Fall nicht. „Ich habe Angst, dass ich das für mich selbst nicht richtig realisiere, dass ich dann mein Abi in der Tasche habe und dass das Gefühl ausbleibt, auf das ich 13 Jahre lang gewartet habe“, befürchtet Charlotte. Lilly will sich auf jeden Fall chic machen, egal, wie sie das Zeugnis bekommt: „Damit man trotz allem ein bisschen das Gefühl hat, dass man es geschafft hat.“
Keiner hat Lust, ein Studium anzufangen
Und dann? Was kommt nach dem Abitur? Längere Reisen sind nicht möglich. Und will man in diesen Zeiten ein Studium beginnen, bei dem man dann wieder zu Hause alleine vor dem Rechner sitzt? Womöglich noch im Zimmer bei den Eltern, in dem man schon das gesamte letzte Jahr verbracht hat, weil man sich eine eigene Wohnung ohne Nebenjob nicht leisten kann? Derzeit haben Studierende wenig Möglichkeiten, irgendwo zu arbeiten. „Ich habe so gar keine Lust, ein Studium anzufangen, wenn ich nicht vor Ort sein kann. Wenn ich studiere, will ich ja neue Leute kennenlernen. Also warte ich erstmal ab“, sagt Lilly. Sie hat mit Tom einen Flug nach Island gebucht, um dort wandern zu gehen: „Irgendwas braucht man, auf das man sich freuen kann. Vor allem nach dem Abi. Wir haben aber die ganze Zeit im Hinterkopf, dass das auch abgesagt werden kann. Das finde ich so schlimm, weil ich mich so darauf freue.“
Charlotte wollte eigentlich Psychologie oder Sozialpädagogik studieren, aber nicht online. Wie geplant nach Neuseeland zu ihrer Gastfamilie aus dem Austausch in der 10. Klasse zu fliegen, geht auch nicht. Jetzt wird sie im September ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer inklusiven Schule oder einem Kindergarten in Köln beginnen: „So bin ich erstmal ein Jahr beschäftigt. Wer weiß, wie lange das noch so weiter geht.“ Tim will Ingenieur werden, hat aber noch keinen festen Plan. Tom fehlt bisher jede Idee: „Alle Berufsmessen sind ja jetzt online und da habe ich nicht die Motivation, mir Vorträge anzuhören. Es wäre bestimmt einfacher, wenn man dahin gehen könnte.“
Und wenn es kein Corona mehr gäbe, wie sähedann der Sommer aus?
Die Abiklausuren sind bald vorbei, die Corona-Einschränkungen leider nicht. Was wäre, wenn alles wieder normal wäre? Was stünde ganz oben auf der Liste? „Wenn es kein Corona gäbe, würde ich gerne mal wieder über die Stränge schlagen. Leute sehen und die Corona-Regeln brechen, die es dann ja nicht mehr gäbe“, antwortet Tim. Charlotte würde mit ihrem Freund durch Europa fahren. Tom möchte alles machen, was man normalerweise im Sommer so macht. Lilly würde auf jeden Fall wegfahren: „Einfach mal was anderes als Köln sehen, von mir aus auch nur für ein Wochenende. Mittlerweile bin ich es echt leid, weil ich denke, dass es nie wieder aufhört.“
Wird es irgendwann aufhören? Niemand kann das mit Sicherheit sagen. Wie allen anderen wird Charlotte, Lilly, Tim und Tom nichts anderes übrig bleiben, als abzuwarten. Eines Tages werden sie erzählen können, dass sie unter enormen Schwierigkeiten ihr Abitur gemacht haben und diese ganz besondere Zeit miterlebt haben, die niemand je vergessen wird. Vielleicht besitzen sie dann noch ihren Abipulli, auf dem dieses Motto steht: „When we made history instead of learning it.“