ADHS und RitalinBrauchen unsere Kinder Pillen?

Verhalten sich Kinder heute wirklich auffälliger?
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Herr Wewetzer, am kommenden Mittwoch leiten sie erstmals an der Seite von Wolfgang Oelsner die Elternwerkstatt im studio dumont. An dem Abend stellen Sie die provokante Frage: Wie viele Pillen brauchen unsere Kinder? Wenn wir auf die aktuellen Verordnungszahlen von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen schauen, dann scheint es ja so, als hätten wir ein größer werdendes Problem – oder?
Mein Eindruck ist schon, dass ab dem Schulalter die Zahl der Kinder gestiegen ist, die ein auffälliges Verhalten zeigen – sei es, weil sie eine Störung im Sozialverhalten haben, sie keine Regeln einhalten können oder aggressives Verhalten an den Tag legen. Und ich habe auch den Eindruck, dass es einen Trend gibt, diese Verhaltensauffälligkeiten stärker medikamentös zu behandeln. Aber das Problem ist sehr vielschichtig und hat viele Ursachen.
Kritiker behaupten, kindliches Verhalten werde vor allem im Interesse der Pharmaindustrie zunehmend pathologisiert, sprich: Ein Verhalten, das früher normal war, gilt heute als krankhaft?
Ich glaube schon, dass Kinder heute weniger Spielraum haben, anders zu sein, und dass es eine klare Tendenz gibt, alles Mögliche zu therapieren. Wenn man in den neuen DSM-5 schaut, also den Katalog für psychische Störungen, dann sind dort tatsächlich deutlich mehr Diagnosen benannt. Zum Beispiel wundert mich, dass man jetzt zwischen einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom unterscheidet, das vor und das nach dem 12. Lebensjahr auftritt. Nach meiner Erfahrung aber gibt es das gar nicht, dass ein Kind bis zum 12. Lebensjahr völlig normal ist und erst dann die ADHS-typischen Auffälligkeiten zeigt. Allerdings kann die Diagnose so häufiger gestellt werden.
Elternwerkstatt
Kinder und Medikamente:
Bekommen unsere Kinder zu
viele Pillen?
Mittwoch, 14. Januar, 19 Uhr
studio dumont, Breite Str. 72, Köln
Mit Prof. Dr. Christoph Wewetzer, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum Köln-Holweide.
Moderation: Wolfgang Oelsner
Der Eintritt ist frei.
Worin sehen Sie mögliche Ursachen, dass sich Kinder heute auffälliger verhalten?
Man darf sicherlich nicht übersehen, dass sich die Lebenswelt für Kinder in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert hat. Kinder sind heute deutlich weniger an der frischen Luft und sitzen viel vor dem PC. Die Möglichkeiten, sich auszutoben, sind so deutlich weniger geworden. Auf der anderen Seite nimmt die Unsicherheit vieler Eltern, etwa in der Frage, wie viele Grenzen sie ihren Kindern setzen sollten, zu. Zudem hat sich die Lebenswelt in Hinblick auf Familie stark verändert. Die Zahl der Alleinerziehenden hat deutlich zugenommen. Das heißt natürlich nicht, dass Alleinerziehende schlechtere Eltern sind. Aber ihre Belastung ist eine viel höhere. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass man mit Kindern bisweilen an seine Grenzen stößt, und wenn man die Verantwortung nie abgeben kann, umso so mehr. Ein weiteres Problem ist, dass in einer Stadt wie Köln jedes vierte Kind inzwischen unter Armutsbedingungen mit geringen familiären Ressourcen aufwächst.
Wir haben also ein gesellschaftliches Problem?
Das sehe ich schon so. Und sehe auch, dass es schwierig werden wird, im Zuge der Inklusion die Vielzahl an auffälligen Kindern in den Regelunterricht einzubinden. Da muss man sich etwas einfallen lassen – zumal im Moment die Zahl der Schüler steigt, die aufgrund ihrer Auffälligkeiten in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken zur Aufnahme angemeldet werden. Dabei geht es oft nicht um ein psychiatrisches Krankheitsbild, sondern eher um soziale und pädagogische Probleme. Dafür bedarf es aber keiner stationären psychiatrischen Behandlung. Dagegen wehren wir uns.
Was sollte sich ändern?
Ich denke, dass die Hilfen für Eltern noch früher ansetzen müssten. In Skandinavien etwa fängt das schon mit der Betreuung durch die Hebammen an.
Kritisch diskutiert wird im Moment nicht nur die Tatsache, dass auffälligen Kindern Psychopharmaka verordnet werden, sondern vor allem, welche. Eine deutliche Zunahme gibt es etwa bei den sogenannten Neuroleptika, die ursprünglich in der Behandlung bei Schizophrenie und Halluzinationen eingesetzt werden und die zum Teil massive Nebenwirkungen haben. Da nur wenige offiziell zugelassen sind, erfolgt ihre Verordnung häufig zudem off label, also außerhalb der Zulassung.
Diese Entwicklung sehe ich sehr kritisch. Zum einen haben wir in der Tat ein Problem, dass es nur wenige Psychopharmaka gibt, die für Kinder zugelassen sind. Für die Behandlung einer Depression gibt es gerade mal ein einziges Medikament, das eine offizielle Zulassung hat. Da ist meines Erachtens der Staat gefordert, mehr unabhängige Studien auch mit Kindern durchzuführen. Bezüglich der Neuroleptika ist festzustellen, dass es bei manchen Krankheitsbildern wie einer paranoiden Psychose geradezu ein Kunstfehler wäre, diese Medikamente nicht zu geben. Auf der anderen Seite werden Neuroleptika immer häufiger pauschal bei aggressiven Verhalten von Kindern gegeben. Das ist sicherlich keine gute Entwicklung, die ich sehr kritisch sehe.
Warum?
Weil wir mit diesen speziellen Medikamenten die Kinder nur ruhigstellen und das Grundproblem nicht beheben – und das auf Kosten von Nebenwirkungen wie z. B. massiver Gewichtszunahme mit den sich daraus entwickelnden weiteren Problemen. Durch die Gewichtszunahme kann es in der Folge zu Gelenkschäden oder auch zur Entwicklung eines Diabetes kommen. Zur Dauermedikation sind deshalb auch atypische Neuroleptika (Handelsname unter anderem Risperidon) nur in Ausnahmefällen geeignet. Man muss schon genau schauen, wem man sie verordnet und wie lange. Bei einem klar diagnostizierten ADHS ohne weitere Auffälligkeiten ist die Gabe von Stimulanzien mit dem Wirkstoff wie Methylphenidat (etwa mit dem Handelsnamen Ritalin) die zielführende Therapie. Da ist die Studienlage eindeutig. Wenn andere Faktoren wie z. B. Angststörungen oder ein gestörtes Sozialverhalten hinzukommen, haben psychotherapeutische und verhaltenstherapeutische Maßnahmen eine größere Bedeutung.
Aber warum soll man einem hyperaktiven Kind ausgerechnet ein Stimulans geben?
Zunächst einmal sollte man dazu wissen, dass ein ADHS nichts mit einem Erziehungsmangel, einer schlechten Schule oder Eltern zu tun hat, die sich nicht kümmern. Vielmehr handelt es sich um eine neurophysiologische Funktionsstörung im Gehirn. Vereinfacht ausgedrückt fährt das Gehirn in bestimmten Situationen sein Erregungsniveau herunter, sodass die betroffenen Kinder von außen kommende Reize nicht mehr filtern können. Die Folge sind eine motorische Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und auch ein impulsives Verhalten. Durch die Stimulanzien wird das Erregungsniveau im Gehirn wieder hochgefahren. Die Kinder können dadurch ihr normales Filtersystem wieder einschalten und wichtige von unwichtigen Reizen unterscheiden, sie werden konzentrierter und ruhiger. Wir ändern also nicht das Verhalten des Kindes, sondern die Voraussetzungen für sein Verhalten.
Aber in der Diskussion war und ist z. B. Ritalin auch wegen der Nebenwirkungen. . .
Je nach Studie geht man davon aus, dass bis zu 30 Prozent der Kinder mit einer Appetitminderung reagieren. Einige Kinder beklagen auch Schlafstörungen, was damit zusammenhängt, dass die Kinder eben nicht „ruhiggestellt werden“, sondern angeregt und stimuliert werden. Normalerweise geben wir die Stimulanzien so, dass sie abends schon durch den Körper abgebaut sind, aber es kann trotzdem bei manchen Kindern zu Einschlafproblemen kommen. Manchmal beschleunigt sich der Puls und der Blutdruck steigt. Ganz selten kann die Gabe der Stimulanzien auch zu depressiven Stimmungen bei den Kindern führen. Das muss man gut beobachten und gegebenenfalls das Medikament absetzen. Insgesamt ist wichtig, dass die Medikamentengabe in ein Gesamtbehandlungskonzept eingebunden ist, dass regelmäßig Kontrolluntersuchungen gemacht werden und beispielsweise bei Appetitlosigkeit des Kindes regelmäßig auch das Wachstum kontrolliert wird. Zudem sollten nach gewisser Zeit auch überwachte Auslassversuche gemacht werden. Immerhin „wächst“ sich bei der Hälfte der Betroffenen in der Pubertät das ADHS aus.
Trotzdem bereitet es vielen Eltern Sorge, dass die lange Einnahme ihre Kinder anfällig für eine spätere Drogenabhängigkeit macht.
Die Studienlage besagt, dass sie eher ein geringeres Risiko haben.
Wenn Stimulanzien so gut wirken, warum waren sie lange im Verruf?
In der Tat ist in den vergangenen Jahren wohl nichts so hart und ideologisch diskutiert worden wie die Gabe von Stimulanzien. Zum Teil vielleicht sogar zu Recht, weil sie lange Zeit viel zu schnell und unkritisch verordnet worden sind. Wahrscheinlich gibt es immer noch zu viele Kinder, die sie gar nicht brauchen. Das hat sich zum Glück in den vergangenen Jahren geändert. Weil die Ärzte inzwischen genauer hinschauen, wer tatsächlich ein Stimulans braucht und vor allem auch, wie lange, ist im vergangenen Jahr erstmals seit 20 Jahren die Zahl der Verordnungen gesunken.
Geht die Zahl der ADHS-Diagnosen denn auch zurück?
Nein, diese Zahl scheint konstant zu bleiben. Seit Jahren liegt der Anteil an klaren ADHS-Diagnosen bei drei bis vier Prozent. Und das ist eine immens hohe Zahl.
Welche Alternativen gibt es zur medikamentösen Therapie?
Bei leichten Formen von ADHS empfehlen die Behandlungsleitlinien verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Bei vielen Kindern hilft das. Neuerdings diskutiert wird auch ein Neurofeedbackverfahren. Als Biofeedback wird die Rückmeldung von Körpersignalen an den Menschen beispielsweise über Ton oder Bildschirm bezeichnet. Neurofeedback ist damit Biofeedback der Hirnaktivität. Dabei bekommen die Kinder, vereinfacht ausgedrückt, durch Elektroden am Kopf auf einem Bildschirm eine Rückmeldung, wie konzentriert sie gerade sind. Da gibt es erste positive Rückmeldungen. Aber da muss man erst einmal schauen, wie sich das weiter entwickelt. Eine ganz wichtige Rolle in der ADHS-Behandlung spielt aber auch die Aufklärung der Eltern. Kinder mit einem ADHS brauchen Rituale und Struktur. Deshalb müssen Eltern ihnen von außen klare Regeln setzen.