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Ferien von den anderenIch bin gerne allein! Hört auf mit eurem Mitleid!

Lesezeit 7 Minuten
Die Autorin sitzt mit winterlichem Pullover und Nikolaus-Mütze allein am Küchentisch und isst Käse-Fondue.

Die Autorin beim Selbstversuch: Manchmal muss sie allein sein mit ihren Gedanken. Auch, um den Akku aufzuladen. 

  1. Wenn unsere Autorin Julia Floß erzählt, dass sie ihr Wochenende allein verbracht hat und auch zwischen Weihnachten und Neujahr gern allein ist, bekommt sie vor allem eins: mitleidige Blicke.
  2. Unmöglich kann doch jemand freiwillig einsam sein? Oder? Warum Alleinsein großartig sein kann und welche Gefahren es birgt, lesen Sie hier.
  3. Aus unserem Archiv.

In unserer allmorgendlichen Redaktionskonferenz machen wir gelegentlich „die Runde“. Wir sitzen alle im Kreis, ähnlich einer sehr großen Selbsthilfegruppe, und die Kollegen erklären in zwei kurzen Sätzen, an welchen Projekten sie gerade arbeiten, welche Termine sie haben, was gerade akut ist.

Die eine Kollegin sitzt am digitalen Jahresrückblick („Muss ich erklären, was ein Hashtag ist?“), die andere plant den großen Tischgrill-Test („Will noch jemand den Tartarenhut übernehmen?“) und die dritte sammelt die schönsten Weihnachtsmarktstände („Das Raclette im Stadtgarten ist köstlich. Unbedingt mit Schinken und Essiggurken probieren“). Dann bin ich an der Reihe: „Ich schreibe die Einsamkeits-Geschichte.“ „Ach Gott, ja...“ Stille. Mitleidige Blicke.

Eine einfühlsam-gemeinte Hand streift meinen Arm. „Für die Fotos bräuchte ich noch Klamotten: Flanell-Schlafanzüge, Weihnachtspullis mit Rentiermotiv, Puschen. Alles was ihr habt. Je hässlicher, je besser.“ Synchron werden Köpfe gen Schulter geneigt. Plötzlich sitzen ein Dutzend treue wedelnde Hundewelpen vor mir. Alle mit demselben Blick „Das arme Ding.“

Diesen Blick kenne ich längst. Gewöhnlich steht er in Verbindung mit der Frage „Was hast du am Wochenende gemacht?“ Ich habe mich schon sehr häufig dabei erwischt, wie ich mich um die Antwort herumdrückte. Oder reflexartig eine Rechtfertigung hinterher schob. „Ich war zu Hause. Hab ganz viel erledigt.“ Nein, hab ich nicht. Ich saß auf meiner Couch, im Schlafanzug, hab mir wahlweise was Leckeres gekocht oder bestellt und das war's.

Ich hab gelesen, meine neue Lieblingsserie geguckt, gestrickt, geschrieben, Musik gehört, mir die Fingernägel lackiert, bin am Sudoku der Süddeutschen Zeitung gescheitert und hing stundenlang meinen Gedanken hinterher. Punkt. Aus. Und soll ich Ihnen was sagen? Es war toll! Großartig! Fabelhaft!

Ich mache das möglicherweise nächsten Samstag wieder so. Da ist nichts Bemitleidenswertes dabei. Ich bin gerne alleine. Nein, ich bin nicht einfach nur gern alleine, es ist mir sogar ein notwendiges Bedürfnis. Permanente Verabredungen strengen mich unglaublich an. Wenn ich in meinen Kalender schaue und feststelle, dass die nächsten drei Wochenenden ausgebucht sind, bricht mir kalter Schweiß aus.

Große Portion Überwindung

Im Laufe meiner Recherche und der Entwicklung dieser Geschichte, kam ich mehrfach an den Punkt, an dem ich dachte „Das Thema ist so banal. So geht es doch jedem. Warum sollte ich das aufschreiben? Was kommt als nächstes? Mein Bedürfnis nach frischer Luft? Vitamin C? Wasser? Wie kann das denn jemand anders sehen?“

Und dann war er wieder da, dieser Blick: „Ja hättest du mal was gesagt. Dann hätten wir doch zusammen was machen können.“ Nein danke, nicht nötig. Zugebenermaßen kostet es mich eine große Portion Überwindung das hier einfach so klar und deutlich zu sagen. Ich habe mich sehr lange gegen das Wort introvertiert gewehrt. Ich bin nicht schüchtern, sondern kommunikativ. Ich bin weder still noch zurückhaltend, ich lache laut und viel. Meine Freunde sind mir sehr wichtig und ich gehe gerne mit ihnen in Bars und Kneipen. Wenn da nicht noch die ganzen anderen Menschen wären.

In der Ecke sitzen und beobachten

Große Cliquen verunsichern mich. Hohe Frauenstimmen und hyänenhaftes Gelächter lässt mein Blut gefrieren. Ich vermute überall Oberflächlichkeit und maßlos überzogene Selbstdarstellung. Ich sitze gerne in einer geschützten Ecke und beobachte die Menschen um mich herum. Ich denke mir kleine Geschichten aus: Woher sich die Herrschaften denn kennen könnten, worüber sie gerade reden. Diese Annahme verkaufe ich dann häufig als Erfahrungswert und präzise Menschenkenntnis. Quatsch. Ich bin schlicht und ergreifend introvertiert. Die Erkenntnis ist gleichzeitig heilsam und schmerzhaft. Endlich weiß ich, was da los ist – die anderen leider nicht.

Gewöhnlich ist meine Selbstverteidigungswaffe die Ironie. Ich schütze mich vor dem Mitleid anderer. Es soll bloß niemand denken, ich wäre ein armes Würstchen ohne Freunde oder Hobbys. Es scheint, als wäre im digitalen Zeitalter, in der Ära der permanenten Erreich- und Verfügbarkeit, der Onlinesucht und vor allem der gnadenlosen Selbstinszenierung nichts so fürchterlich wie die Einsamkeit. Vom Sockenkauf bis zum Sonntagsfrühstück: Es ist immer die ganz große Party. Je mehr Menschen auf dem Selfie, je besser. Je mehr Likes, Kommentare und Markierungen, je besser. Bewusstes Alleinsein gleicht viralem Rufmord.

Natürlich gibt es auch die Fraktion #metime, die nostalgische Kaffeetassen mit Klassikern der Weltliteratur zu einem hübschen Stillleben arrangieren, ihr pittoreskes Werk dann knipsen, ein bisschen Weichzeichner drüber legen und dem sozialen Netzwerk dann mitteilen, dass sie gerade einen Riesenspaß beim Alleinsein haben. Ich für meinen Teil bin mir sehr sicher, dass diese Herrschaften mit 100-prozentiger Sicherheit völlig unentspannt in ihren Wohnung sitzen und alle 30 Sekunden checken, ob schon jemand ihre frohe Einsamkeits-Botschaft mit Daumen oder Kommentar versehen hat.

Zur Ruhe kommen

Wenn das nicht eintrifft, kommen wir dem Kern der Einsamkeit schon näher. Sie ist ambivalent. Es ist ein schmaler Grat zwischen ironischem Selbstschutz und Zynismus. Genauso verhält es sich mit der Einsamkeit. Einerseits kann das freiwillige, das gewollte, bewusste Alleinsein ungemein erfüllend sein, andererseits kann einen die Einsamkeit erdrücken und in eine tiefe Depression ziehen, aus der man ohne Hilfe nicht mehr herauskommt. Die Angst vor letzterem, in Kombination mit dem gesellschaftlichen Ansehen von Einsamkeit, lässt uns möglicherweise unsere eigenen Bedürfnisse übersehen.

Wir kommen zur Ruhe. Wir beschäftigen uns mit uns selbst. Hinterfragen uns, reflektieren unsere Verhaltensweisen. Die Autoren, Philosophen und Denker der Aufklärung und Romantik erkoren sie zur Grundvoraussetzung des ernsthaften, nein ernstzunehmenden Menschen. Arthur Schopenhauer formulierte als großer Befürworter der Einsamkeit: „Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wenn man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft.“

Friedrich Wilhelm Nietzsche setzte sogar noch einen drauf: „Des einen Einsamkeit ist die Flucht des Kranken, des anderen Einsamkeit die Flucht vor Kranken.“ Im Zentrum steht also die bewusste Abschottung, die Konzentration auf die eigenen Gedanken. Die permanente Reizüberflutung des Alltags wird angehalten, die Selbstwahrnehmung erhöht. Das ist allerdings kein automatischer Prozess. Nur weil jemand bewusst einsam ist, startet er nicht zwangsläufig die große Persönlichkeitsanalyse.

Wer bin ich? Bin ich glücklich? Was sind meine Lebensziele? Natürlich ist es keine schlechte Idee, sich gelegentlich mit diesen Fragen zu beschäftigen, aber es wäre schlicht und ergreifend falsch, würde ich hier postulieren, ich ginge quasi jeden Samstag den großen Fragen der Menschheitsgeschichte auf den Grund. Manchmal ist es viel einfacher. Wie in dem Essay von Sarah Golbaz „Warum ich am liebsten mit mir alleine bin.“

Sie erklärt ihr Bedürfnis nach Einsamkeit an Hand eines Benzintanks. Dieser ist morgens randvoll. Kaum verlässt sie das Haus verbrennt sie Energie. Sozialer Kontakt ist anstrengend. Jede Lärmquelle ein Energiefresser. Wenn sie abends wieder zu Haus ankommt ist der Tank fast leer. Zu leer für weitere soziale Aktivitäten. Sie braucht die Zeit mit sich selbst um den Tank erneut zu füllen. Wenn ihre Freunde sie nun „nötigen“ etwas zu unternehmen, fühlt es sich an, als würde jemand Diesel in den Benzinmotor schütten. Es funktioniert einfach nicht.

Der „schwarze Hund“ auf dem Brustbein

Nichtsdestotrotz ist die Einsamkeit nicht ungefährlich. Auch für introvertierte Menschen. Die Grenzen zwischen dem bewussten, gewollten Alleinsein, welches jederzeit beendet werden kann und der ungewollten, brachialen Einsamkeit sind fließend. Wer sich ständig zurückzieht, Verabredungen absagt, Freundschaften einschlafen lässt, der wird eines Tages die Augen öffnen und feststellen, dass da wirklich niemand mehr ist. Und das hat dann nichts mehr mit Selbstfindung und Benzintanks zu tun, sondern Depression.

Die Autorin Anja Rützel beschrieb diese Erkenntnis in ihrem wunderbaren Text „Einzelfall“: „Churchill hat seine Depression als ,schwarzer Hund' bezeichnet, der stets in der Zimmerecke liege und ihn beobachte. Einsamkeit fühlt sich am Ende so an, als hätte sich ein Bernhardiner auf einem niedergelassen, während man schlief.“ Es ist ein schleichender Prozess. Über Jahre hinweg. Die dunkle Jahreszeit, besonders die Zeit um Weihnachten und Silvester, ist bekanntermaßen prädestiniert dafür, den großen, schweren Köter auf dem Brustbein zu spüren - in all seinen unerträglichen Ausmaßen. Freude und Leid liegen selten so dicht bei einander.

Auf der einen Seite stehen die großen Familientreffen und -zusammenführungen, an denen sich viele etwas mehr Einsamkeit wünschen würden, auf der anderen Seite diejenigen ohne Angehörige und alte Freunde, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Ende der Einsamkeit.Letztendlich ist nicht die Anzahl der Menschen entscheidend, mit der man den großen, schweren, schnarchenden Hund bezwingt. Ein einziger ist manchmal völlig ausreichend.

Diese Geschichte ist zuerst am 28.12.2015 im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erschienen.