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Auch bei guten NotenWarum immer mehr Schüler zur Nachhilfe geschickt werden

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„Eine Sache würde ich lieber täglich auf morgen verschieben: die Schule!“

Noch sechs Wochen bis zum Schuljahresende. Für viele Schüler bedeutet das: Noch einmal richtig Gas geben. Doch nicht nur im Endspurt vor den Zeugnissen lassen immer mehr Eltern ihre Kinder von professionellen Nachhilfelehrern coachen. Rund ein bis zwei Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland bekommen regelmäßig nach der Schule Extraunterricht.

Bemerkenswert: Längst nicht mehr nur Schüler, die deswegen einer Versetzungsgefährdung besonders nötig hätten. Inzwischen erhalten immer mehr Kinder Nachhilfe, bei denen eine ohnehin schon gute Note gehalten oder noch weiter verbessert werden soll. Nach einer aktuellen Erhebung der Universität Duisburg-Essen sind es vor allem besser betuchte Eltern, die ihrem Nachwuchs diesen Zusatzunterricht finanzieren – um so sein späteres Fortkommen zu garantieren.

Wie war das jetzt nochmal mit der richtigen Schreibweise?

Obwohl der Schulerfolg in Deutschland besonders stark mit der sozialen Herkunft korreliere, bekämen Kinder höherer Schichten die meiste Nachhilfe – deren Angehörige häufig von Abstiegsängsten geplagt seien, die sie auf ihren Nachwuchs projizierten, so das Fazit der Studie, die die Bildungsforscher Klaus Birkelbach und Rolf Dobischat im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt hatten. Dafür hatten sie eine Vielzahl von Studien ausgewertet und zudem 400 Nachhilfe-Institute befragt.

Die Zahl der Nachhilfe-Schüler nimmt stetig zu

Tatsächlich hat die Zahl der Nachhilfeschüler in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. In einer Befragung von 2013 gab fast jeder zweite 17-Jährige an, in der Schulzeit schon einmal Nachhilfeunterricht genommen zu haben. Zum Vergleich: Anfang des Jahrtausends waren es nur 27 Prozent. Bei den 15-Jährigen nimmt aktuell fast jeder Dritte private Förderstunden. Und selbst unter den Achtjährigen bekommen schon sechs Prozent zusätzlichen Unterricht.

Und dafür greifen Eltern tief in die Taschen. Große Nachhilfeinstitute berechnen zwischen 100 und 150 Euro im Monat für wöchentlich zwei Einzelstunden à 45 Minuten. In der Gruppe ist der Unterricht billiger. Privatlehrer nehmen zwischen sieben und 25 Euro pro Einheit. Laut einer Bertelsmann Studie von 2016 summieren sich die elterlichen Ausgaben für Nachhilfestunden so jedes Jahr auf insgesamt mehr als 900 Millionen Euro.

Grund für Nachhilfe: Unzufriedene Eltern

Die Gründe für das Wachstum des Nachhilfemarktes sehen die Bildungsforscher der Universität Duisburg-Essen vor allem in einer zunehmenden Unzufriedenheit der Eltern mit dem öffentlichen Schulsystem, dem gestiegenen Leistungsdruck, einem verschärften Wettbewerb um aussichtsreiche Bildungswege und in der Folge einem gestiegenen Ehrgeiz der Eltern.

Sicher in die Schule. Das muss geübt werden.

Letzteren gehe es oft weniger um die Lerninhalte als nur noch um gute Zeugnisse, so ihr Fazit in der aktuellen Studie. Den Zeugnisschnitt beziehungsweise die Versetzung scheint mit Abstand am häufigsten das Fach Mathematik zu gefährden. 61 Prozent aller Nachhilfeschüler braucht die außerschulische Unterstützung in diesem Fach. Tendenz steigend.

Torsten Landwehr, den Leiter des Rechentherapiezentrums in Köln, überrascht diese hohe Zahl nicht. „In Mathematik gibt es eben keinen Spielraum. Da gibt es nur ein Richtig oder ein Falsch“, erklärt der Pädagoge. Dass vor allem ab der Mittelstufe der Nachhilfebedarf schlagartig steige liege daran, dass Mathematik aufeinander aufbaue.

Schüler entwickeln eine regelrechte Mathe-Angst

„Das ist wie ein Mauerwerk. Wenn im unteren Bereich ein Stein fehlt, dann wird die Mauer irgendwann instabil und bricht zusammen.“ Spätestens ab der 7./8. Klasse habe nur noch der eine Chance, der die Grundlagen verstanden habe. Und wer hier Lücken entstehen lasse, bekomme früher oder später Probleme. Manche Schüler entwickelten darüber eine regelrechte Angst vor dem Fach Mathe. „Wenn ich Angst habe, kann ich aber keine Leistung bringen“, so Landwehr.

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Ist der Druck in der Schule zu hoch? Eltern sollten herausfinden, was das Kind belastet.

Wichtig sei es deshalb, erst einmal herauszufinden, wo die Kinder im Matheunterricht „ausgestiegen“ sind beziehungsweise welche Grundlagen-Bausteine in der Mathemauer fehlen. Das habe manchmal ganz banale Gründe. „Vielleicht war der Schüler zum Beispiel bei der Einführung der Dreisatzrechnung einfach ein paar Tage krank oder hat gerade die Schule gewechselt“, erklärt Landwehr.

Wer aber die Grundlagen etwa des Dreisatzes nicht verstanden habe, dem fehle die Basis für fast alles, was danach komme. Erschwerend hinzu käme, dass durch die Einführung von G8 die Lehrpläne derart verdichtet seien und immer weniger Zeit für ein Thema und deren Vertiefung bleibe. Ein weiteres Problem sei der viel zu wenig praxisorientierte Unterricht. Schon in der Grundschule werde nach seiner Ansicht viel zu früh ohne konkretes Anschauungsmaterial gearbeitet.

Warum der Unterricht anschaulicher werden muss

Neben Lesen und Schreiben lernen Kinder auch, wie sie ihre Schulsachen ordnen.

„Wenn man zum Beispiel die Bruchrechnung etwa anhand von Knetgummi-Pizzastücken anschaulich erklärt, dann bleibt das ganz anders im Kopf hängen, als wenn man es nur theoretisch vermittelt.“ Auch der schlechte Ruf des Faches Mathematik sei für viele Kinder eher ein Hindernis. Für viele Schüler und Eltern hat das Fach den Rang eines notwendigen Übels. „Dabei ist Mathematik darauf angelegt, dass man es begreift, weil es in großen Teilen unsere Umwelt abbildet“, sagt Landwehr, der auch ein Projekt für Schüler und Erwachsene mit Mathestress leitet.

Die Nachhilfe darf nicht zur Dauerlösung werden

Grundsätzlich hält der Pädagoge es nicht für problematisch, wenn Kinder in einem Fach Nachhilfeunterricht nehmen – solange es eben nur ein oder zwei Fächer sind und die Nachhilfe keine Dauereinrichtung ist. „Wenn ein Kind in fast allen Fächern Unterstützung braucht, dann sollten Eltern sich die Frage stellen, ob das Kind die richtige Schulform besucht.“

Schulpsychologe Andreas Heidecke ist ähnlicher Ansicht: „Wenn ein Kind eine nicht geeignete Schulform besucht, ist Nachhilfeunterricht eine Förderung, die nicht zum Wohle des Kindes ist.“ Natürlich gebe es auch sinnvolle Nachhilfe, etwa wenn es darum gehe, vorhandene Lücken zu schließen, so Heidecke. Wichtig aber sei, dass die Nachhilfe – sei es nun in der Schule durch Förderunterricht oder außerhalb der Schule – das Kind in die Lage versetze, selbstständig zu arbeiten. Eine Nachhilfe, die nur genommen werde, damit dem Kind zum Beispiel die Vokabeln abgehört werden, schade eher, weil es das selbstständige Arbeiten eines Kindes ersetze.

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Eigentlich ist doch alles so einfach - oder?

Als problematisch sieht Diplom-Psychologe Heidecke an, dass nach Einführung der Ganztagsschulen an „langen Tagen“ keine Hausaufgaben gegeben werden, diese werden durch vom Lehrer begleitete Lernzeiten in der Schule ersetzt. Hausaufgaben seien immer aber auch selbstständiges Lernen und tragen zur Verfestigung des Gelernten bei. Für ein Kind, das locker alles verstehe, sei der Verzicht auf Hausaufgaben meist kein Problem. Die, die sich schwer tun, wüssten aber manchmal gar nicht mehr, was und vor allem wie sie selbstständig üben sollen, wenn sich Probleme zeigten.

Grundsätzlich empfiehlt Heidecke Eltern bei Schulproblemen, nicht eine fordernde und strafende Rolle einzunehmen, sondern eine helfende, sprich: sie sollen Anteil nehmen an dem, was ihr Kind in der Schule macht und gemeinsam mit ihm nach Lösungen suchen, etwa wie sich Lerneinheiten sinnvoll in den Tag einbauen lassen können. Wenn allerdings die Schulprobleme immer wieder dazu führen, dass es innerhalb der Familie zu Streit kommt, plädiert Heidecke dafür, die Nachhilfe aus der Familie auszulagern. Ob die nun bei einem Oberstufenschüler oder in einem privaten Nachhilfeinstitut besser sei, könne man nicht grundsätzlich sagen.

Nachhilfe-Lösung mit Charme: Ältere Schüler helfen Jüngeren

„Das kommt immer darauf an. Wenn es komplexe Verständnisprobleme gibt, dann ist ein Profi besser“, so der Schulpsychologe. Bei kleineren Lücken aber könnte der Oberstufenschüler, zu dem die jüngeren Schüler aufschauen, die charmantere Lösung sein. Um Eltern im immer größer und unübersichtlicher werdenden Markt an Nachhilfe-Anbietern eine Entscheidungshilfe zu bieten, hat der TÜV Rheinland begonnen, Schulen unabhängig zu testen und ihnen das Siegel „Qualitätsstandard Nachhilfe“ zu verleihen.

Für eine erfolgreiche Prüfung wird etwa gefordert, dass die Vertragsbedingungen seriös, die Räumlichkeiten geeignet und die Lerngruppen nur maximal fünf Schüler groß und nur qualifizierte Lehrkräfte zugelassen sind. Weiterhin sollten die Nachhilfeinstitute die Fortschritte der Kinder transparent dokumentieren können.