Protokoll eines bisexuellen Outings„Wenn ich mich verliebe, dann in einen Menschen“
- Der 23. September ist weltweit der Bisexualität gewidmet. Um darauf hinzuweisen, dass sie neben der Hetero- und Homosexualität eine eigenständige sexuelle Orientierung ist.
- Der internationale Tag der Bisexualität will auch für die damit verbundenen gesellschaftlichen Probleme und Vorurteile sensibilisieren.
- Hier lassen wir die Studentin Emma Henrichs (21, Name geändert) von ihrem zehrenden Weg zum Coming-Out erzählen. Danach beantwortet ein Kölner Experte häufig gestellte Fragen zur Bisexualität.
Köln – „Ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als ich meine Eltern zum ersten Mal fragte, was wäre, wenn ich lesbisch sei. Sie haben, das war mein großes Glück, völlig cool reagiert. Es sei vollkommen egal, zu wem ich mich hingezogen fühlte, sagten sie. Hauptsache ich sei glücklich. Dennoch hat es nochmal zehn Jahre mehr gedauert, bis ich Klarheit hatte und ihnen im Mai dieses Jahres in einem langen Brief offenbaren konnte: Ich bin „bi“.
Zuvor: Zehn zehrende Jahre der inneren Auseinandersetzung. Mal bewusst, mal unbewusst, aber immer anstrengend. Da gab es Phasen, in denen ich verdrängen wollte, was ich – im Nachhinein betrachtet – immer fühlte: Dass ich auch Frauen sehr attraktiv finde und begehre. Heute ist mir klar, dass ich schon in der Grundschule auf meine beste Freundin stand. Wir kennen uns seitdem wir zwei Jahre alt sind. Ich war furchtbar eifersüchtig, habe gelitten, wenn sie anderen Kindern ihre Aufmerksamkeit schenkte. Als ich wenige Jahre später Keira Knightley in „Fluch der Karibik“ sah, habe ich nicht nur gedacht: „Wow, ist die cool“. Für mich war sie mehr als das. Manche Jungs aber auch. Kürzlich habe ich mich meiner besten Freundin gegenüber geoutet. „Wie gut,“ sagte sie, „jetzt kann ich Dein manchmal sonderbares Verhalten damals, Deine Phasen des Rückzugs, besser einordnen.“
Fehlende bisexuelle Vorbilder
Dann gab es Zeiten, in denen ich einfach tat, fühlte und dachte, was das Gros der Gleichaltrigen tat, fühlte, dachte. Ich war damals mit einem nicht sonderlich großen Selbstbewusstsein ausgestattet, also schaute ich mir alles von anderen ab. Da es keine bi- oder homosexuellen Vorbilder gab, niemanden, der oder die über gleichgeschlechtliche Liebe sprach, verbot auch ich mir die Frage oder besser: die Suche nach meiner sexuellen Identität. Das Gefühl, eine Grenzgängerin zu sein schob ich in die Tiefen meines Unterbewusstseins. „Ja nicht aus der Reihe tanzen“ lautet das Gebot der Pubertät.
Erst als ich vor zwei Jahren an einem sozialen Camp in den USA teilnahm, kam ein Stein ins Rollen. Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich dort, weit im Norden der USA, Menschen kennen, die offen bi- und homosexuell lebten und sich darüber austauschten. Es fühlte sich befreiend an, so als ob ein fest verknäulter Knoten in mir platzte. Ab dann wurde mir peu à peu bewusster, was ich bis dahin verdrängt hatte. Und ich ließ den Gedanken zu: Wenn ich mich verliebe, dann in einen Menschen, egal ob Mann oder Frau.
Unaufgeregtes Outing vor Freunden
Zurück in Deutschland begann ich, mit Freunden darüber zu sprechen, vielleicht auch, um herauszufinden, ob sie mich dann sonderbar finden oder etwas dagegen hätten. Sie haben alle positiv, unaufgeregt reagiert. Das ist nicht selbstverständlich. Es kursieren ja so viele verletzende Vorurteile über Bisexuelle. „Die trauen sich nur nicht, zur Homosexualität zu stehen“ sagen die einen. „Die treiben es doch mit jedem und jeder, können niemals treu sein“, die anderen. Wenn zwei Frauen knutschen, heißt es: Die sind lesbisch, wenn es zwei Männer tun, sind sie schwul, wenn ein Mann und eine Frau sich küssen, ist klar: die sind heterosexuell. Dabei könnten alle sechs bisexuell sein.
Und das mit der Treue: Es gibt in heterosexuellen Beziehungen sicher auch etliche Frauen und Männer, die andere Männer und Frauen, attraktiv finden. Gehen die gleich chronisch fremd? Dann gibt es ja auch noch diejenigen, die nur damit kokettieren, bisexuell zu sein. Um sich interessant zu machen. Aufmerksamkeit zu erhalten. Schade, dass Bisexualität noch immer nicht als Norm angesehen wird und sich irgendwo zwischen unsichtbar, sonderbar und schick bewegt. Schade, dass Bisexualität noch immer nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Wäre es so, müsste man sich nicht ständig erklären. Das strengt enorm an.
Ausprobieren ist keine Option
Aber zurück zu meiner Heimkehr aus den USA. Seitdem hat sich einiges verändert. Tatsächlich lief mein Bewusstwerdungsprozess rein im Kopf ab. Ich verliebe mich nämlich nicht so schnell, hatte deshalb auch noch keine Beziehung und „es einfach mal auszuprobieren“, wie mir der ein oder die andere schon geraten hat, kommt für mich nicht in Frage. Ich möchte mich wirklich 100 Prozent wohlfühlen mit einem Menschen.1000 Prozent zu ihm oder ihr stehen.
Lockdown bringt befreiende Klarheit
Der Lockdown und die mit ihm einhergehenden eingeschränkten sozialen Kontakte kamen mir deshalb nicht ungelegen. Ich nutzte die Zeit, um mir noch klarer zu werden. Las viel über Bisexualität und schaute, was ich schon immer gerne tat: Serien. Diesmal vor allem solche, in denen andere sexuelle Orientierungen, außer der heterosexuellen, vorkamen. Und ich lud mir Tiktok aufs Handy. Zog mir Videos rein, die mir zeigten: Du bist nicht allein! Du bist nicht sonderbar! Du bist normal! Schade, dass bisexuelle Menschen oder Figuren erst in den vergangenen Jahren vermehrt in TV-Serien oder Filmen vorkommen. Hätte es die in meiner Kindheit und Jugend gegeben, hätte mir das sicher sehr geholfen - quasi als Vorbildfunktion. Ich hätte mich in den Charakteren sehen, mich mit ihnen identifizieren können.
Bisexuelle Giraffen und TV-Heldinnen
In der Serie „Legend of Korra“ zum Beispiel wird eine romantische Beziehung zwischen zwei weiblichen Hauptfiguren thematisiert, die zuvor auch schon heterosexuelle Beziehungen hatten. Und die Hauptrolle in dem Kinderfilm „The Auel House“ ist eine bisexuelle Frau. Wenn ich im Bio-Unterricht das erfahren hätte, was ich erst später zufällig las: Dass es mindestens 1500 verschiedenen Tierarten gibt, die beweisen, dass Bisexualität Natur gegeben ist, dass zum Beispiel bei Giraffen 90 Prozent aller sexuellen Aktivitäten mit dem gleichen Geschlecht stattfinden, hätte das meine Verunsicherung sicher ein wenig genommen. Doch die gehört nun hoffentlich der Vergangenheit an: Der Brief an meine Eltern hat meine Klarheit nochmal bestärkt. Das ist unglaublich befreiend. Jetzt kann ich aufhören, ständig darüber nachzudenken."
Zum Internationalen Tag der Bisexualität am 23. September gibt Dominik Weiss, systemischer Berater im Jugendzentrum „anyway“ in Köln, Antworten auf häufig gestellte Fragen rund um das Thema Bisexualität, erklärt, warum ein solcher Tag noch immer von Nöten ist und räumt mit Vorurteilen auf.
Was bedeutet Bisexualität genau?
Es gibt viele Definitionen von Bisexualität. Die bekannteste ist, dass bisexuelle Menschen sich zu Männern und Frauen gleichermaßen hingezogen fühlen, sowohl auf romantischer Ebene, als auch sexuell. Das bedeutet aber nicht, dass bisexuelle Personen ständig mehrere Menschen begehren würden – ein häufiges Vorurteil. Bisexuelle gehen in gleicher Weise monogame Beziehungen ein und binden sich auf lange Zeit mit einem Partner oder einer Partnerin.
Jugendeinrichtung anyway in Köln
Das anyway ist eine Jugendeinrichtung für junge Lesben, Schwule, Bi, trans* und Queers von 14 bis 27 Jahren. Nicht nur bei konkreten Fragen können Interessierte sich ans anyway wenden: Es werden auch ein offenes Café und verschiedene Projekte angeboten, in denen sich die Jugendlichen in einem geschützten Raum treffen und kennenlernen können.Jeden dritten Freitag im Monat bietet das anyway einen Coming-In-Day an.Nächster Termin: 18. Oktober 2020, 16-17.30 UhrAnmeldung per Mail unter:
anyway e.V.Kamekestr. 1450672 KölnTelefon: 0221 – 5777760www.anyway-koeln.de
Wie viele Menschen sind bisexuell?
Es gibt nicht viele Studien, Bisexualität ist nach wie vor wissenschaftlich kaum erforscht. In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGrov aus dem Jahr 2015 jedoch gaben 43 Prozent der 18- bis 24-Jährigen an, nicht ausschließlich hetero- oder homosexuell zu sein. Der Durchschnittswert aller Altersgruppen lag bei 19 Prozent.
Warum gib es einen internationalen Gedenktag?
Bisexuelle Menschen fühlen sich häufig als Grenzgänger zwischen den homo- und heterosexuellen Welten. Und das nicht, weil sie sich in der Liebe nicht auf ein Geschlecht festlegen können, sondern weil Bisexuelle häufig von mehreren Seiten diskriminiert werden. Von der homosexuellen Community klingen häufig Vorurteile an, Bisexuelle würden sich „einfach nicht trauen, sich richtig zu outen“. Zwar ist das Outing als Bisexuelle oder Bisexueller für manche ein Zwischenschritt auf dem dem Weg zum Outing als Homosexueller, aber eben nicht für alle. Heterosexuelle erklären Bisexuelle dagegen häufig als übersexualisiert und attestieren ihnen eine Unfähigkeit, treu zu sein. Oder sie verordnen die sexuelle Orientierung Bisexueller als „Phase, die sich wieder gibt“. Laut einer amerikanischen Studie haben Bisexuelle nicht zuletzt deswegen häufiger mit seelischen und körperlichen Problemen zu kämpfen.
Immer mehr junge Menschen outen sich. Warum?
Tatsächlich lässt sich ein Wandel im Umgang mit Sexualität beobachten. Besonders Jugendliche experimentieren heute häufiger mit ihrer Sexualität und wollen sich nicht als bi-, hetero oder homosexuell festlegen. Von einem Trend lässt sich jedoch nicht sprechen, es gibt eher eine Tendenz zu mehr Offenheit und Flexibilität im Umgang mit der sexuellen Orientierung. Bisexualität ist dennoch nach wie vor eine sexuelle Orientierung, die weniger öffentlich diskutiert und verhandelt wird als beispielsweise Homosexualität. Generell ist die sexuelle Identität ein lebenslanger Prozess und Fakt ist: Je offener wir darüber sprechen, desto einfacher wird es auch für Bisexuelle, zu ihrer Orientierung zu stehen.