Body Positivity und Erziehung„Dem Kind zu sagen, dass es dick ist, hilft gar nichts“
Köln – Kinder sollen lernen, den eigenen Körper so anzunehmen, wie er ist. Dabei fällt genau das vielen Erwachsenen wahnsinnig schwer. Können Eltern trotzdem ein gutes Vorbild sein? Und wie sollten sie damit umgehen, wenn ihr Kind tatsächlich zu viel drauf hat? Ein Gespräch mit Ernährungswissenschaftlerin Antje Hebestreit.
Wie lebt man Kindern ein gutes Körperbild vor?
Antje Hebestreit: Es fängt damit an, Ausdrücke wie „zu dick“ oder „zu dünn“ komplett aus dem Wortschatz zu streichen. Die Forschung hat festgestellt, dass ein häufiger Grund für die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist, einem idealen Aussehen entsprechen zu wollen. Wenn dieses Ideal den Kindern immer vor die Nase gehalten wird und sie lernen, dass man daran gemessen wird, erhöht sich ihr Schamgefühl und führt zu Stress. Und mit dieser unangenehmen Emotion gehen sie dann durch den Alltag. Haben sie erst einmal verinnerlicht, dass sie dem nicht entsprechen, kann das zu depressiven Symptomen, Ess- und Schlafstörungen führen.
Gehört dazu auch schon ein Kommentar der Tante, die das Kind „Speckbäckchen“ nennt?
Zur Person
Antje Hebestreit ist Ernährungswissenschaftlerin und Expertin für lebensstilbedingte Erkrankungen am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS).
Auf jeden Fall. Studien haben die Wirkung solcher Neckereien von Familienmitgliedern untersucht. Selbst beiläufige Hänseleien führen dazu, dass Kinder sich unzureichend und ungenügend fühlen. Dabei wollen Kinder doch ihre Eltern stolz machen. In dem Moment, wo ein Elternteil zum Kind sagt „Hey, du süßer Mops“, ist beim Kind die Kerbe geschlagen. Ich kenne Erwachsene, die sich immer noch an die Bewertungen der Eltern erinnern, wenn sie heute vor dem Spiegel stehen. Erwachsene sollten Kommentare zum Aussehen des Kindes deshalb einfach sein lassen.
Oder allgemein Kommentare über das Erscheinungsbild anderer?
Natürlich. Kinder schauen sich ab, wie Eltern mit anderen Menschen umgehen. Warum muss man immerzu jemanden einstufen wegen seines Aussehens? Man kann doch Menschen einfach so sein lassen, wie sie sind.
Auch in vielen Kinderfilmen und -serien gibt es übrigens bewertende, stereotype Charakterdarstellungen, zum Beispiel den lustigen Moppel oder den dämlichen Klops, konkret zum Beispiel „Kung Fu Panda“ oder „Shrek“.
Da fällt mir gerade „Klößchen“ aus „TKKG“ ein…
Genau. Oder der dicke Justus Jonas aus „Die ???“, er war zwar klug, aber wurde immer Pummelchen genannt. Ich habe Kollegen, die schauen mit ihren Kindern keine Filme mehr, in denen mit dem Dicksein kokettiert und Übergewichtige stigmatisiert werden. Denn solche Darstellungen haben Auswirkungen. Ich kenne viele Übergewichtige, die es so leid sind, immer die Lustigen und Fröhlichen geben zu müssen.
Ältere Kinder eifern wiederum den perfekten Instagram-Schönheiten nach. Wie vermittelt man ihnen dennoch ein realistisches Körperbild?
Influencer werden dafür bezahlt, einem Idealtypus zu entsprechen, auch durch Filter oder sogar Schönheits-OPs. Wenn sich junge Menschen den ganzen Tag solche Leute anschauen, dann rückt das die eigene Körperwahrnehmung in eine andere Relation. Mit so etwas kann kein normales Körperbild mithalten. Eltern sollten das Gespräch suchen und den Kindern klar machen, dass Influencer Dinge vermarkten wollen und die Kinder diesem Ideal nicht entsprechen müssen.
Jetzt „arbeiten“ ja auch viele Erwachsene an ihrem Gewicht – Mama stellt sich täglich auf die Waage. Was kommt bei den Kindern an?
Ich finde, man kann sich auch wiegen, wenn das Kind nicht da ist. Es muss nicht immer daneben stehen, wenn man den eigenen Körper monitoriert. Dass man unglücklich ist mit seinem Gewicht und daran arbeiten will, das ist allein das Problem des Erwachsenen. Wenn man es doch anspricht, dann sollte man den Gesundheitsaspekt betonen, anstatt zu sagen „Mama muss Diät machen“.
Was können Eltern antworten, wenn das Kind so etwas sagt wie: „Du hast aber einen dicken Bauch, Papa!“?
Solche Kommentare sind normal. Kinder ab dem Grundschulalter fangen an, sich zu vergleichen. Eltern könnten in so einer Situation zum Beispiel sagen: „Ja, das gehört zu mir, wir sind alle anders.“ Sie sollten vorleben, den eigenen Körper zu akzeptieren und anzunehmen. Studien haben gezeigt, dass durch ein solches elterliches Verhalten die Unzufriedenheit, die beim Kind durch die sozialen Medien ausgelöst wird, wieder geradegerückt werden kann.
Zu Corona-Zeiten haben viele Kinder zugenommen. Was tun, wenn das eigene Kind wirklich übergewichtig geworden ist. Darf man ihm sagen, dass es zu dick ist?
Was erwartet man durch so eine Aussage vom Kind? Dass es sagt: „Ja, dann esse ich jetzt viele Äpfel“? Solch einen Satz sollte man unbedingt runterschlucken. Ihm zu sagen, dass es dick ist, hilft dem Kind überhaupt nicht. Es ist ja auch nicht alleine so dick geworden. Das Ess- und Bewegungsverhalten von zuhause hat wahrscheinlich dazu geführt, dass es übergewichtig geworden ist. Da müssen Eltern Verantwortung übernehmen und sich klar machen, ihr Kind kommt da nur mit ihrer Hilfe wieder heraus.
Eltern sollten also aktiv werden, ohne das zum Thema zu machen?
Genau. Eltern sollten nicht verkünden „ab jetzt gibt es nur noch halbe Kost!“, sondern es in Ruhe angehen und das Ernährungsverhalten der ganzen Familie langsam umstellen - wieder frischer kochen, weniger Fast-Food und Fertigprodukte auftischen, die Portionsgrößen überdenken und immer mehr Zucker weglassen.
Auf keinen Fall sollten Kinder Diäten machen. Das führt nur dazu, dass sie die verbotenen Dinge umso mehr haben wollen und sich schnell entmutigt fühlen. Viel wichtiger ist es, dem Kind beizubringen, was zu einer gesunden Ernährung gehört und wie sich ein natürliches Geschmackserlebnis anfühlt. Kinder müssen ein gesundes Ernährungsverhalten lernen.
Das klingt so leicht, aber die Kinder sind sicher anfangs irritiert…
Am Anfang wird die Familie sicher fragen, was los ist. Die Eltern könnten dann erklären, dass es darum geht, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Familie zu verbessern - und zwar ohne den Fokus auf das Gewicht zu legen. Hilfreich ist, die Kinder mit einzubinden, sie zum Markt mitzunehmen und selbst ein Gemüse aussuchen oder sie mitkochen zu lassen. Man kann gemeinsam schauen, wie man das Lieblingsgericht des Kindes gesund umwandeln kann oder in Familienkochbüchern nach neuen Rezepten suchen.
So kommen Eltern auch wieder mehr in den Austausch mit ihrem Kind. Studien belegen, dass Jugendliche durch diese stärkere Bindung in der Familie, also wenn sie regelmäßig Zeit haben mit ihren Eltern, auch weniger mit Süßigkeiten kompensieren – weil sie emotional satt sind.
Apropos Süßigkeiten, wie sollten Eltern damit umgehen?
Statt Süßigkeiten immer verfügbar zu haben, könnte man ganz regelmäßig einen Teller mit kleingeschnittenen Äpfeln, Trauben und Knabbergemüse hinstellen. Ich habe die Erfahrung gemacht, eine frische Gurke oder Möhre finden eigentlich alle gut. Die gesunde Lebensmittelauswahl kann man den Kindern antrainieren.
Das heißt nicht, dass es keine Süßigkeiten mehr geben darf. Man sollte sie aber weniger, bewusster und mit Genuss konsumieren. Statt nebenher vor dem Fernseher eine Tüte Gummibärchen wegzunaschen sich am Wochenende lieber bewusst ein Nußnougat-Brot zum Frühstück gönnen. Eltern sollten das Genießen sogar fördern. Oder ruhig auch mal gemeinsam mit den Kindern Plätzchen essen. Auch Fast-Food darf ab und zu mal sein, wenn man sich sonst ausgewogen ernährt. Studien zeigen, bereits eine Familienmahlzeit mit frisch Gekochtem am Tag, macht schon einen riesigen Unterschied.
Und wie bringt man Kinder dazu, sich mehr zu bewegen?
Auch hier spielt es eine große Rolle, mit den Kindern etwas gemeinsam zu machen. Familienausflüge in die Natur und zusammen draußen aktiv zu sein, das sollte ein fester Programmpunkt sein. Das ist ja auch schön für die Kinder, ihre Eltern für sich zu haben und etwas zu erleben, statt alleine vor dem Bildschirm zu sitzen. Gerade am Anfang müssen Eltern hier aber klare Ansagen machen: Geräte aus und raus!
Ich habe den Eindruck, Eltern müssen sich in jeder Hinsicht ordentlich ins Zeug legen…
Absolut. Die Eltern müssen voll mitmachen, sonst werden es die Kinder auch nicht schaffen. Aber es lohnt sich auf jeden Fall! Man muss den Eltern immer wieder klar machen, dass sie nicht das Opfer sind, an dem alles hängen bleibt. Die ganze Familie profitiert davon, sich gesünder zu ernähren und mehr zu bewegen. Es wird allen besser gehen. Der Teenager freut sich, weil er weniger Pickel hat, der Vater kommt wieder in seine Lieblingsjeans, alle fühlen sich wohler und fitter.