Cordula StratmannWir reden unsere Kinder krank

Cordula Stratmann im Interview mit dem Magazin.
Copyright: Jörn Neumann Lizenz
Köln – Als ich die "Magazin"-Titelgeschichte "Extrem schüchtern" vom 18. März las, wusste ich, dass ich darauf reagieren muss. In der Geschichte ging es um schüchterne Kinder und eine Therapie, die von der Uniklinik Köln für Kinder und Jugendliche mit sozialen Ängsten angeboten wird. Ich muss reagieren, weil ich die These einer solcher Behandlung für bedenklich halte. Mein Verdacht: Wir machen unsere Kinder selber krank!
Was sehen wir in unseren Kindern?
Ich glaube, wir Erwachsenen - Spezialisten wie Eltern - müssen uns dringend entscheiden, was wir in unseren Kindern sehen. Halten wir Kinder für grundsätzlich labil und gefährdet? Oder sehen wir in ihnen komplexe Wesen, die ihrem Gegenüber ganz individuelle Eigenarten zeigen? Kämen wir bei einem Erwachsenen auf die Idee, seine Vorliebe für etwas, das uns selbst nicht liegt, für behandlungsbedürftig zu erklären? Nein, wir würden wohl in uns hinein denken: "Der tickt also anders als ich."
Wenn wir uns weiterhin weigern, Kindern offen zu begegnen und ihre Eigenarten erst einmal anzunehmen, wenn wir sie vorschnell auffällig nennen, erhalten wir dadurch auch auffällige, verunsicherte Kinder. Ein Kind, das in seinen Außenkontakten ein langsameres Tempo an den Tag legt als ein kontaktfreudiges, braucht keinen Arzt, keine Testung; sondern unsere Unterstützung, so sein zu dürfen, wie es ist. Sein Tempo zu finden, seine Art zu finden, in Kontakt mit anderen zu treten.
Grundsätzlich kann jede Eigenart eines Menschen eine Ausprägung erlangen, die Maßnahmen wie eine Therapie erforderlich machen. Das ist bei Erwachsenen so, das kann bei Kindern eintreten. Auch dann ist es ratsam, das Kind nicht aus seinem Kontext herauszunehmen und im wahrsten Sinne des Wortes an ihm "herumzudoktern". Dann sollte sich vielmehr die ganze Familie auf die Suche machen, worin das Ungleichgewicht besteht, auf das das Kind mit seiner Auffälligkeit hinweist. Am besten bei Familientherapeuten, wenn ich hier eine Empfehlung aussprechen darf. Ein Kind, das lieber liest und Sport ablehnt, ist für sportliche Eltern sicher eine Herausforderung. Es braucht aber keine therapeutische Hilfe.
Jeder Mensch ist eigenartig
Wenn ich aber Ihrem Artikel folge - und die abgedruckte Checkliste ernst nehme, die mir bei der Einschätzung meines Kindes helfen soll -, dann habe ich selbst einen kranken Sohn. Dann haben meine Freunde kranke Kinder, dann ist die ganze Klasse meines Sohnes - ich fürchte, die ganze Schule - erkrankt. Kinder brauchen uns als Begleiter darin, andere Menschen als jeweils eigenartige Wesen zu erkennen. Ich käme im Traum nicht auf die Idee, den Freund meines Sohnes, der mich bei jedem Besuch nur ungern anspricht und der auch die persönliche Verabschiedung nicht erfunden hat, für gestört zu halten. Ich finde ihn manchmal seltsam, weil er so anders ist als ich, aber ich erkenne, dass er gern bei uns ist, und ich gehe einfach davon aus, dass er irgendwann bereit sein wird für den direkteren Kontakt mit mir. Außerdem liebt mein Sohn diesen Freund. Dem könnte ich gar nicht vermitteln, dass dieser Junge zu einem Experten muss, weil er so ist, wie er ist. Mein Sohn sagt zu mir: "Mama, Du weißt ja, wie der ist, der grüßt halt nicht." Fertig und weiterspielen. Es gäbe unter Garantie mehrere Experten, die diesem Jungen eine Kontaktstörung unterstellen, seinen Eltern zu einer Therapie für ihn raten würden.
Es ist nicht schlimm!
Ich möchte dringend davor warnen, Kinder wegen ihrer speziellen Persönlichkeit krank zu schreiben! Woher kommt die Idee, dass man mit einem schüchternen, einem lauten, einem bequemen, einem blonden Kind unbedingt einen Experten aufsuchen muss? Gibt es keine Eltern mehr, die in ihren Kindern deren Eigenarten erkennen und ihnen verraten, wie sie selbst sich als Kind in die Gemeinschaft hineingefummelt haben? Ich habe meinem Sohn längst erzählt, wie unsicher ich mich manchmal als Kind inmitten anderer Kinder fühlte. Dass es niemanden gibt, dem es nicht auch mal zum Heulen zumute ist. Wir müssen unsere Kinder nicht zu Tests schicken. Wir müssen ihnen erzählen, dass Verunsicherungen Aufgaben sind, die es zu lösen gilt. Dass es nicht schlimm ist, wenn ein Tag mal unrund läuft. Dass sie mit allem ausgestattet sind, um ihre eigenen Lösungen zu finden. Und dass wir ihnen dabei helfen.
Aber wenn wir Eltern, Lehrer, Fachleute im Angesicht dieses mal runden, mal unrunden Lebens stets selbst in Panik geraten, wenn unsere Kinder störungsfrei funktionieren müssen, damit sie uns nicht in unserem anstrengenden Leben zusätzlich verunsichern, dann sind unsere Kinder verloren mit uns. Wenn so viele Kinder auffällig sind, dann haben wir einen falschen Begriff vom Leben. Dann werden Unterschiede zu Auffälligkeiten. Dann brauchen wir Eltern Experten, die uns helfen aus der Angst vor dem Leben. Und keine, die unsere Kinder krank schreiben.
Gastbeitrag
Cordula Stratmann ist Komikerin, Autorin, Schauspielerin und ausgebildete Familientherapeutin.