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Was ich erlebe„Vielen ist nicht klar, wie weit Behindertenfeindlichkeit gehen kann“

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Behinderung hat nicht zwingend mit einem Rollstuhl zu tun. 

Köln – Bei „Diversität“ denken Menschen an Regenbogenflaggen, Hautfarbe oder Glauben. Wenn ein Unternehmen sich als „divers“ bezeichnet, meint es vielleicht den Frauenanteil. Behindert oder nicht – diese Art der Vielfalt spielt selten eine Rolle, wenn es um Minderheiten geht. Dabei gehört Behinderung zum EU-Verständnis von Diversität wie etwa Geschlecht, sexuelle Identität, ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit oder Religion.

„Bewundernswert, wie diese Menschen ihr Leben meistern, trotz ihres schlimmen Schicksals“: So funktionieren viele Geschichten über Menschen mit Behinderung. Die Person tut gerade etwas, das für sie völlig normal ist. Trotzdem finden andere sie „wahnsinnig inspirierend“. Die Sozialen Medien sind voll von Beispielen. Wenn die behinderte Person wirklich etwas Besonderes tu, heißt es: „Wenn sogar sie das kann, schaffst du das auch!“

Zur Person

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Britta Bauchmüller schreibt seit 2017 für diese Zeitung über Verbraucherthemen und Finanzen. Sie ist selbst Risikopatientin und lebt mit Behinderung.

Niemand schuldet seine Geschichte

„Inspiration Porn“ nennen behinderte Menschen dieses Phänomen, wenn sie dafür herhalten sollen, dass andere sich besser fühlen. Wenn sie immer wieder fremden Menschen ihre Geschichte erzählen sollen, damit deren Probleme in den Hintergrund rücken. Geprägt wurde der Begriff von der australischen Aktivistin Stella Young.

Ein Beispiel aus meinem Posteingang: „Deine Geschichte inspiriert mich und gibt mir ganz viel Kraft, die Corona-Zeit durchzustehen.“ Das Problem: Es geht nur um das eigene Befinden. Wie so eine Aussage die behinderte Person zurücklässt, spielt keine Rolle. „Ich habe häufig den Eindruck, dass Menschen denken, das sei das Einzige, wofür behinderte Menschen da sind“, sagt Aktivistin Luisa L'Audace dem „Veto“-Magazin.

Klischees hinterfragen

Was „Inspiration Porn“ auch deutlich macht: Die krassen Klischees über Menschen mit Behinderung. Es wird davon ausgegangen, dass sie leiden, ihr Leben bestenfalls ertragen. Depressiv sind. Oder im Gegenteil: lebensfrohe Kämpfer, die sich nicht entmutigen lassen, egal wie viele Steine ihnen in den Weg gelegt werden.

Das eine Klischee suggeriert, ein Leben mit Behinderung sei nicht lebenswert. Betroffene sollten lieber davon „erlöst“ werden Eine Annahme, die hilft, Gewalt gegen behinderte Menschen zu legitimieren. NS-Propaganda. Das zweite Klischee macht behinderten Menschen Druck und entbindet die Gesellschaft aus ihrer Verantwortung. Aus reiner Willenskraft wird ein Rollstuhlfahrer nicht die Treppe nehmen können.

Sich gegen Ausgrenzung stellen

Klischees wie diese halten sich hartnäckig. Auch weil ein großer Teil der Gesellschaft keine Berührungspunkte mit behinderten Menschen hat, weder bei der Arbeit noch im Privaten. Es gibt eine Art Parallelgesellschaft mit Förderschulen, Wohnheimen und Werkstätten„Es ist keine Naturtatsache, dass behinderte Menschen ausgegrenzt sind“ sagt Rebecca Maskos der Deutschen Welle. Sie hat „Disability Studies“ in Deutschland entscheidend geprägt. „Das liegt nicht an der Behinderung sondern daran, wie mit Behinderung gesellschaftlich umgegangen wird.“

Wie sage ich es?

Auf Nummer sicher geht man mit „Mensch mit Behinderung“.

„Behinderte Menschen“ soll betonen, dass Menschen behindert werden.

Das Problem mit „Behinderte“: Es reduziert eine Person auf ihre Behinderung. Dazu kommt die umgangssprachliche Verwendung.

Verharmlosende Bezeichnungen wie „Handicap“ erfassen nicht, dass es um ein gesellschaftliches Problem geht. Im Zweifel fragt man die Person selbst.

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden, heißt es im Grundgesetz. Die Gesetze dazu sind noch jung: Das Gleichstellungsgesetz BGG trat 2002 in Kraft, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz 2006. Sie legen etwa eine Pflicht zur Barrierefreiheit fest oder verbieten Benachteiligung, auch im Arbeitsleben. Auch in der EU-Grundrechtecharta von 2000 und in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 ist das Recht auf Chancengleichheit verankert.

Mikroaggressionen ernstnehmen

Doch so wie es trotzdem rassistische oder sexistische Diskriminierung gibt, werden Menschen auch wegen ihrer Behinderung benachteiligt oder ausgegrenzt. Im Englischen wird das „ableism“ genannt, von „ability“ und „disability“. Der deutsche Begriff Ableismus ist wenig bekannt. Ableismus kann beabsichtigt und offensichtlich sein, etwa wenn jemand gezielt angefeindet wird. Viel häufiger sind aber kleine, alltägliche Situationen, sogenannte Mikroaggressionen. Zum Beispiel, wenn behinderte Menschen reflexartig geduzt oder wie Kinder behandelt werden.

Auch die fehlende Sichtbarkeit von Krankheit und Behinderung offenbart Ableismus. Dass man einen Politiker offen mit Hilfsmittel sieht wie Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz im Hochwassergebiet, ist selten. In der Arbeitswelt werden Krankheit und Behinderung als Schwächen ausgelegt, die nicht zur Leistungsgesellschaft passen. Behinderung ist Thema von Dokus, nicht von Serien. Schauspieler gewinnen regelmäßig den Oscar, wenn sie eine Rolle mit Krankheit oder Behinderung spielen. Amazon Studios hat dagegen eine neue Richtlinie, diese Rollen sollen nur noch von behinderten Menschen gespielt werden.

Situation während Corona anerkennen

In der Pandemie hat Ableismus Hochkonjunktur. Als es anfangs hieß, nur alte und kranke Menschen seien betroffen, hätten viele uns gern einfach weggesperrt und weitergemacht wie vorher. Überfüllte Intensivstationen in anderen Ländern befeuerten Debatten über eine Triage. Man solle lieber zuerst die jungen und fitten Menschen versorgen, hörte ich mehrfach. Die seien schließlich wichtiger. Aktivist Raul Krauthausen kritisierte wiederholt fehlende Hygienemittel. „Ein Großteil dieser Menschen lebt zu Hause, befindet sich seit März 2020 in Selbstisolation und wird die ganze Zeit vergessen“, sagte er dem Deutschlandfunk. Bei der Impfpriorisierung wurden anfangs viele Menschen mit Behinderung und seltenen Erkrankungen überhaupt nicht berücksichtigt, obwohl sie stark gefährdet sind.

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Besonders hart ist die Lage für Familien mit Risikopatienten oder pflegebedürftigen Angehörigen. Autorin Jasmina Kuhnke teilt ihre Situation auf Instagram: Eins von vier Kindern ist lungenkrank, die ganze Familie lebt seit Beginn der Pandemie in Selbstisolation. Kein Präsenzunterricht, kein Kindergarten. Impfen geht noch nicht, der einzige Ausweg ist daher die Herdenimmunität.

Zuhören und Mitgefühl zeigen

Vielen Menschen ist nicht bewusst, wie verbreitet Ableismus ist und wie weit er gehen kann. Behinderte Menschen sind viermal häufiger von Übergriffen betroffen, Frauen häufiger von sexualisierter G. Im April tötete eine Mitarbeiterin in einem Wohnheim in Potsdam vier Menschen mit Behinderung. Einige Medien sprachen von „Erlösung“ oder erklärten die Überforderung der Pflegekräfte zur Ursache. Den Opfern werde dadurch eine Mitschuld gegeben, kritisieret „Übermedien“. Andere berichteten gar nicht.

Manchmal hilft schon hinsehen, zuhören. Mitgefühl zeigen. Zu verstehen, woran Menschen mit Behinderung sich erinnert fühlen, wenn sie minderwertige FFP2-Masken bekommen. Was Gewalttaten wie Potsdam bei ihnen auslösen oder Worte wie „Erlösung“ und „Triage“. Und dass sie manche Nachrichten nicht so nebenbei wegstecken.

Fazit: Was helfen würde

• Wenn Entwickler sich häufiger unseren Problemen widmen würden. Das hilft auch anderen – wie bei selbstschließenden Sneakers oder der Vorlesefunktion für Artikel.

• Wenn unsere Perspektive nicht nur bei Inklusion gefragt wäre. Auch zu anderen Themen können wir viel beitragen, ob zu Body Positivity, mentaler Gesundheit oder Pflegenotstand.

Wenn uns mehr Unternehmen beschäftigen und fair bezahlen würden: 60 Prozent leisten lieber eine Ausgleichsabgabe. Werkstätten zahlen 1,35 Euro Stundenlohn.

• Wenn sich andere Menschen bei dem Thema weniger unbeteiligt fühlen würden. 97 Prozent der Behinderungen treten erst im Laufe des Lebens auf.

Wenn mehr Webseiten barrierefrei wären. Untertitel bei Videos und Bildbeschreibungen sind ein Anfang. Aber auch Kontraste oder Schriftarten sind wichtig.

• Wenn unsere Mitmenschen nicht so verunsichert wären. Viele Menschen mit Behinderung teilen ihren Alltag auf Sozialen Medien.

• Wenn bei Diskriminierung an Ableismus gedacht würde. Inklusionsaktivisten klären darüber auf. Podcast-Tipps: „Echt behindert“, „All inclusive“ oder „Die neue Norm“.