Funkstille mit der FamilieWenn Kinder ihre Eltern verlassen
Wir haben ein Kind, aber dieses Kind hat keine Eltern mehr“, sagt Adelheid Schmitz und man hört ihrer Stimme an, wie sehr sie dieser Satz immer noch schmerzt. Auch nach zehn Jahren noch. Zehn Jahre zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zehn Jahre, in denen die Rheinländerin und ihr Mann unzählige Tränen geweint haben, sich immer wieder Vorwürfe gemacht und wieder und wieder dieselbe Frage gestellt haben: Warum? Eine Antwort darauf, warum das gerade erwachsene Kind von heute auf morgen gegangenen und den Kontakt zu ihnen abgebrochen hat, haben die beiden bis heute nicht.
Ein Kontaktabbruch ohne jede Begründung. „Wissenschaftlich ist das noch ein relativ unerforschtes Gebiet“, sagt Dr. Christiane Jendrich. Und doch ist die Kölner Psychotherapeutin – nicht zuletzt aufgrund der Anfragen in ihrer Praxis – davon überzeugt, dass mehr Menschen betroffen sind, als man vermutet. Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, Geschwister, die nichts mehr voneinander wissen wollen: Die familiäre Funkstille ist vielfältig. Und, nach Jendrichs Einschätzung, ein häufiger werdendes Phänomen – dem in der Öffentlichkeit immer noch wenig Beachtung geschenkt wird. „Vielleicht werden wir insgesamt bindungsunfähiger“, vermutet Therapeutin.
Kontaktabbrüche seien vielleicht ein „Zeichen der Zeit“, mutmaßt auch Buchautorin Tina Solimann. „Denn wir leben in einer Zeit, in der enge Bindungen durch die stetige Beschleunigung des Lebens und das Primat der Selbstbestimmung, der Mobilität und Flexibilität auf dem Prüfstand stehen.“
Fast wie ein Suizid
Fest steht: Ein radikaler Kontaktabbruch ist nichts, was man so eben mal macht. „Es ist für viele Betroffenen der letzte Ausweg“, sagt Jendrich, der von außen betrachtet vielen als bösartig erscheint. Schließlich sei dieses regelrechte „Löschen“ in der Pädagogik die schlimmste Strafe, die Menschen einander antun können. „Man leugnet jemanden in seiner Existenz. Das ist wie eine Ich-Vernichtung durch einen anderen“, erklärt die Psychologin. Ihr Schweizer Kollege, der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Udo Rauchfleisch gar vergleicht den Kontaktabbruch mit einem Selbstmord: „Der Kontaktabbruch ist eine absolute Grenze, denn er verhindert jeglichen Eingriff, jeglichen Übergriff, fast wie ein Suizid.“
Tina Solimann: „Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen“, Klett-Cotta, 17,95 Euro.
„Der Sturm vor der Stille: Warum Menschen den Kontakt abbrechen“, Klett-Cotta, 18,95 Euro.
Gerade weil es aber ein Abschied „ohne Abschiedsbrief“ sei, sei er für die Zurückgebliebenen nur schwer zu ertragen, glaubt Christiane Jendrich. Denn wenn Kinder ihre Eltern plötzlich verlassen oder ein Geschwisterteil ohne jede Begründung den Bruder oder die Schwester ignoriert, dann sei das ein „uneindeutiger Verlust“. „Wenn jemand stirbt, kann man denjenigen begraben und man hat seine Trauerphasen“, erläutert die Kölner Therapeutin. Ein Kontaktabbruch aber sei nur schwer zu ertragen, weil man eben nicht abschließen kann. Es sei so als habe man dauerhaft „ein Geschwür oder ein abgeschlagenes Bein“, beschreibt eine Mutter in dem Buch von Tina Solimann das Leben ohne ihren Sohn.
Der Kern des Problems liegt in dem radikalen Abbruch der Kommunikation. „Das Schweigen ist eine offene Wunde, die immer klafft und die sich nicht zunähen lässt, weil es die Antwort auf die Frage Warum nicht gibt“, schreibt Tina Solimann. Gleichwohl sind sich die Experten einig, dass der scheinbar abrupte Ausbruch aus dem bis dahin oft als innig empfundenen Familienleben meist eine Vorgeschichte hat. „Der Moment der Bruchs ist oft eine lautlose Explosion, die in dem Moment, in dem sie sich ereignet, unbemerkt bleibt. Die Loslösung fand oft schon vor dem Abbruch statt“, formuliert es Buchautorin Solimann.
Erlebte Ohnmacht
Eine unzureichende Konfliktfähigkeit, nicht wahrgenommene Grenzüberschreitungen und erlebte Ohnmacht in der Gegenwehr – all das kann für Christiane Jendrich zu einer solch lautlosen Explosion führen – manchmal erst nach vielen Jahren. Auffallend sei allerdings, dass der Ausbruch häufiger aus eher engen und vertrauensvollen Beziehungen erfolgt. Eine Ursache für den plötzlichen Kontaktabbruch von Kindern zu ihren Eltern kann eine asymmetrische Eltern-Kind-Beziehung sein, in der ein Elternteil – vermutlich ohne es zu wollen– zu dominant ist oder als dominant empfunden wird. In diesen Beziehungen haben selbst erwachsene Kinder bisweilen noch das Gefühl, gefangen zu sein.
„Im Moment des Kontaktabbruchs fühlen sie sich mächtig, weil sie das Zepter des Handelns übernommen haben“, erläutert Christiane Jendrich. Nach außen hin erscheine dieser radikale Bruch oft als bösartig. Klar sei aber auch, dass die, die den Kontakt abbrechen, oft genauso so leiden wie die verlassenen Eltern oder Geschwister. Der Schweizer Psychoanalytiker Udo Rauchfleisch sieht in einem Ausbruch „eine extreme Unsicherheit, sich nicht artikulieren zu können“ oder aber die Situation, dass jemand denke: „Jetzt habe ich es x-mal angedeutet, jetzt reicht’s. Jetzt gehe ich, weil die andere Person zu wenig sensibel ist.“
Verlassensein als Makel
Viele verlassene Eltern spüren bei jeder Frage nach dem Kind die unausgesprochene Mutmaßung, dass sie doch irgendetwas falsch gemacht haben müssen, „doch irgendetwas dran sein muss, wenn Kinder nichts mehr mit ihren Eltern zu tun haben wollen“. Betroffene wie Rainer Schneider empfinden die Funkstille zu ihren Kinder oder Geschwistern deshalb als Makel. „Diesem, meist unausgesprochenen, aber zutiefst kränkenden Vorwurf geht man am besten aus dem Wege, in dem man das Thema tabuisiert“, sagt er. Wie er wollen viele Betroffene deshalb auch in der Öffentlichkeit nicht über ihre Geschichte sprechen – zumindest nicht unter ihrem echten Namen. Um seine Anonymität zu wahren, haben wir ihm genau so wie Adelheid Schmitz einen fiktiven Namen gegeben.
Wenn Eltern schweigen
Rainer Schneider hat selbst im engsten Umkreis nicht über den Kontaktabbruch seines Kindes geredet. „Ich habe kaum mit meinen Geschwistern und meinen Freunden darüber gesprochen, und sie mieden das Gespräch darüber aus Rücksicht auf meine Gefühle“, berichtet er. Für ihn aber gibt es noch einen zweiten, wie er sagt, „viel wichtigeren Grund“, nicht öffentlich darüber zu reden. „Kein Betroffener wird auch nur das Geringste tun wollen, was die Kinder noch weiter entfremden könnte.“ Allein die Vorstellung, die Kinder könnten davon erfahren, dass das Elternteil sich in der Öffentlichkeit zur Trennung geäußert hat, sei ein Alptraum – und würde jede Hoffnung auf eine Versöhnung auf viele Jahre hinaus zerstören, glaubt Schneider.
Diese Sorge war es auch, die Adelheid Schmitz in den kurzen Intervallen, in denen die Funkstille unterbrochen war, niemals nach dem Warum hat fragen lassen. „Wir hatten Angst, dass das zarte Beziehungspflänzchen wieder zerbricht“, sagt sie. Dass es dann dennoch wieder zum radikalen Bruch gekommen ist, bleibt für sie ein Rätsel: „Wir haben wahrscheinlich zum falschen Zeitpunkt geatmet“, sagt sie resigniert.
An den schlimmsten Tagen der Verzweiflung wäre sie „am liebsten vor einen Baum gefahren“, sagt Adelheid Schmitz. Geholfen habe ihr und ihrem Mann in dieser schweren Zeit eine psychologische Betreuung und der Austausch in der Selbsthilfegruppe.
Nach zehn Jahren haben Adelheid Schmitz und ihr Mann nun die Suche nach einer Antwort aufgegeben. Sie wollen endgültig einen Schlussstrich ziehen. „Diese zehn Jahre haben soviel Kraft gekostet. Wir müssen jetzt alleine auf uns achten. Darauf, dass es uns gut geht“, sagt sie.