Mal Team, mal GegnerWoran liegt es, ob erwachsene Geschwister sich gut verstehen?
Köln – Wenn meine Welt wackelt, eine Krise heranzieht oder Großes ansteht, dann sind sie da. Ein Bollwerk. Ein Netz. Ein Zuhause. Ich könnte bei ihnen beichten, nackt Freudentänze aufführen, verzweifelt Rat suchen und sie würden zuhören, mittanzen, die Glut aus dem Feuer holen und notfalls meine Kinder großziehen. Meine drei Geschwister gehören zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Dabei sind wir nicht einmal Teil des gleichen Alltags. Wir sehen uns selten. Zwischen uns liegen hunderte Kilometer und sogar Landesgrenzen. Manchmal bleibt es selbst im Geschwister-Chat ruhig, weil einfach alle ihrem vollen Leben nachgehen. Und doch fühle ich mich ihnen immer nah. Die Vertrautheit reißt nicht ab. Das unerschütterliche Band hält, auch wenn die Jahre ins Land gehen. Und zu wissen, dass sie da sind, im Idealfall bis an mein Lebensende, das gibt mir Kraft und eine unfassbare Ruhe.
Krankheitsfälle und Meilensteine – erwachsene Geschwister als Team
Das bedeutet nicht, dass wir nicht auch mal die Augen rollen über den anderen, so wie wir uns eben auch in der Kindheit in die Haare gekriegt haben. Ein kleines bisschen haben wir unsere „klassischen“ Rollen von früher auch behalten – das Nesthäkchen und die Fürsorgliche, die Komplizierte und der Ausgleichende – und ziehen uns immer mal damit auf. Oder fordern ein, dass die anderen doch gefälligst erkennen sollten, wie man sich geändert habe. Aber wir funktionieren auch aus dem Nichts heraus wie ein gut geöltes Team. Wenn es einen Krankheitsfall gibt, läuft die Wer-macht-was-Maschine selbst aus der Ferne auf Hochtouren. Wenn es Meilensteine zu feiern gilt, wird geplant, gedichtet und gefeiert. Und wenn wir uns sehen, sind wir einfach beieinander, ohne dass es einer Gewöhnungsphase bedarf.
Ich weiß, ich habe großes Glück. Es ist alles andere als gegeben, dass Geschwisterbeziehungen so gut funktionieren. Manche Brüder und Schwestern sind sich schon in der Kindheit spinnefeind und als Erwachsene gänzlich fremd. Einige haben lang anhaltende Konflikte und brechen den Kontakt bewusst ab. Woran liegt es also, ob Geschwister eine gute Verbindung haben? Und lässt sich das schon im Kindesalter beeinflussen? Ich habe eine Expertin und einen Experten gefragt.
„Die Beziehung zwischen Geschwistern ist eine der intimsten“
Eine Wahrheit ist unumstößlich: Wir haben keinen Einfluss darauf, wer unsere Geschwister sind. „Familie ist ‚Zwangskontext‘, wir suchen uns nicht aus, in welches System wir hineingeboren werden“, sagt Familientherapeutin Christiane Jendrich. Partner und Freunde wählten wir selbst aus und strengten uns an, um ihnen zu gefallen. Geschwister aber seien von Beginn an selbstverständlich. „Die Beziehung zwischen Geschwistern ist eine der intimsten. Sie lernen sich ‚nackt‘ kennen, also so wie sie sind. Es ist schlichtweg unmöglich, sich 24 Stunden am Tag zu verstellen.“ Durch die räumliche Nähe werde jede Stimmungslage beobachtbar.
In diesem engen Kollektiv übten Geschwister den Umgang mit Konflikten, Loyalitäten, Verrat, Konkurrenz und Gemeinschaft. Und die dort gelernten „Streitkulturen“ wendeten sie im weiteren Leben immer wieder an. „Streit ist für Geschwister im Kindesalter mitunter das wichtigste Sozialisierungstraining“, sagt auch Kinderpsychiater Stefan Battel. „Geschwister können aber auch ganz viel voneinander lernen, Ansprechpartner in Krisensituationen sein und somit eine kleinste Solidargemeinschaft bilden.“ Eine Garantie für eine gelingende Geschwisterbeziehung gebe es aber nicht. „Manche Geschwister entwickeln nie eine wirklich innige Beziehung und mögen sich nicht.“
„Neue Geschwisterbindungen im Erwachsenenalter sind immer möglich“
Wie gut sich Geschwister in der Kindheit verstehen, das hänge auch von den einzelnen Rollen und Nischen in der Familie ab. „Es geht auch darum, welche bewussten oder unbewussten Erwartungen Eltern an ihre Kinder stellen“, erklärt Stefan Battel. Eine ausgewogene Erziehung ohne starre Rollenzuschreibungen und Auf- und Abwertungen durch die Eltern sei eine wichtige Grundlage für ein gutes Geschwisterverhältnis. Eine große Rolle für das gegenseitige Verständnis spiele auch, wie die einzelnen Kinder die eigene Geschwistersituation interpretierten.
Aber kommen Geschwister, die in der Kindheit eine enge Beziehung hatten, auch automatisch später besser miteinander aus? „Sicherlich wird im Kindesalter ein stabiles Fundament gegossen“, sagt Stefan Battel, „doch wie bei einem Hausbau ist das nicht alles, hier spielen verschiedenste Parameter eine Rolle.“ Kinder machten außerhalb ihrer Familie Erfahrungen, die sie beeinflussten. Auch der Altersabstand und die Geschlechterverteilung kämen hier zum Tragen.
Gefühlter Neid und erlebte Ungerechtigkeit sind klassische Stolpersteinen
„Es können auch jene Geschwister als Erwachsene zueinander finden, die in der Kindheit kein enges Verhältnis hatten“, sagt Christiane Jendrich. „Neue Geschwisterbindungen im Erwachsenenalter sind immer möglich, auch wenn ihnen die gemeinsam erlebte Geschichte einer engen Beziehung fehlt.“ Auf der anderen Seite sei der Eindruck, man könne Geschwisterbeziehungen nicht aufkündigen, nur eine relative Sicherheit. „Die gemeinsame Vergangenheit kann nicht aufgelöst werden, Geschwisterbeziehungen im Erwachsenenalter aber selbstverständlich schon.“ Die Frage sei auch immer, welche Verbindung man erwarte oder sich wünsche. „Manche wollen auch gar keine intensive Beziehung, ihnen reicht auch ein sporadischer, lockerer Kontakt.“
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Voraussetzung für eine gute Beziehung zu erwachsenen Geschwistern sei auf jeden Fall ein „aufgeräumtes Kinderzimmer“. „Gefühlter Neid und erlebte Ungerechtigkeit sind klassische Stolpersteine in erwachsenen Geschwisterbeziehungen“, sagt Jendrich, „es kommt also auch darauf an, wie wir unsere Kindheitserlebnisse bewerten. Vergleichen wir uns noch? Müssen wir uns abgrenzen?“ Komme es doch zum Streit zwischen erwachsenen Geschwistern, müsse das aber nicht unbedingt negativ bewertet werden. „Streit bedeutet ja auch Bindung. Wenn ich mit einem Menschen nichts mehr zu tun haben möchte, brauche ich mich nicht zu streiten.“ Hilfreich sei eine offene Kommunikation über alte Wunden, es brauche aber auch die Empathie, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen.
Wichtig sei auch, dass man seine Geschwister im Heute akzeptiere, zum Beispiel ihre neuen Lebenspartner annehme und Verständnis dafür aufbringe, dass sie Situationen unterschiedlich erleben und bewerten. „Und wir müssen die Geschwister auch zu einem gewissen Grad loslassen können. Wenn wir ihnen als Erwachsene immer noch mehr Bedeutung zumessen als unseren gegenwärtigen Partnern und Partnerinnen, hat die Loslösung nicht ausreichend stattgefunden.“