Allen Geschwistern gerecht werden„Natürlich darf man Kinder auch warten lassen“
Um die Bedürfnisse aller Geschwister zu erfüllen, müssen sich Eltern oft geradezu zerreißen. Doch kann man in einem vollgepackten Alltag eigentlich überhaupt allen Kindern gerecht werden? Und wie viel Vertrösten ist noch gesund? Geschwister-Expertin Katja Seide erklärt, wie Eltern richtig reagieren können und warum Allein-Zeit eine echte Wunderwaffe ist. Ein Gespräch.
Viele Eltern kennen diese verflixten Momente: Das eine Kind verzweifelt über den Hausaufgaben, das zweite ruft vom Klo und das dritte will unbedingt jetzt Monster spielen. Was tun?
Katja Seide: Das ist wirklich schwierig. Manchmal kommt alles genau in einem Moment zusammen und man kann sich nicht teilen. Aber eigentlich muss man das auch nicht. Kinder können ja durchaus abwarten lernen. Manche Bedürfnisse sind dringender, andere sind bei näherem Hinsehen eher Wünsche, und die muss man dann gar nicht unbedingt erfüllen. Mit ein bisschen Übung können Eltern lernen, zu erkennen, welches Bedürfnis welchen Kindes in diesem Moment am schwersten wiegt. In diesem Fall hier hilft man also zuerst dem Kind auf der Toilette. Dann schaut man bei den Hausaufgaben vorbei und spielt dann im Anschluss eine Weile Monster.
Gibt es Leitlinien, damit man in einer so zugespitzten Situation schnell die richtige Entscheidung trifft?
Ja, man kann so eine kleine Checkliste im Kopf behalten. Sofort muss man zum Beispiel handeln, wenn ein Kind stark blutet oder anderweitig verletzt ist. Fast ebenso schwer wiegen allerdings Grundbedürfnisse wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Aufmerksamkeit – zeigt ein Kind eins von diesen Bedürfnissen, wird sich um dessen Belange mit hoher Priorität gekümmert.
Der nächste Punkt ist das Alter. Die Grundregel lautet: Je jünger das Kind ist, desto zeitnaher sollte sein Bedürfnis befriedigt werden. Hat also das Baby Hunger und der Dreijährige will schlafen, müssen wir das Kleinkind ein bisschen vertrösten, weil wir zunächst das Baby stillen müssen. Wir können es ihm aber schon einmal gemütlich machen, indem wir eine Einschlaf-CD einschalten.
Die letzte Frage auf der Checkliste ist, wie oft jedes der Kinder heute oder innerhalb der letzten Zeit schon zurückstecken musste. Dieses Kind hat dann Vorrang. Oft sind es die ältesten Kinder, die immer wieder vertröstet werden, weil ihre jüngeren Geschwister weniger gut abwarten können. Das ist ganz natürlich.
Kann es Kindern schaden, wenn sie häufig warten müssen oder ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden?
Das Geschwisterbuch
Ja, auf Dauer schadet es, wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Das wurde ja in früheren Generationen sogar als Erziehungsansatz verfolgt: Babys, die nachts Nähe zu ihren Eltern wollten, ließ man weinen, bis sie nicht mehr danach fragten. Die Liste könnte man beliebig erweitern. Heute weiß man, dass diese Nichterfüllung der Bedürfnisse psychische Probleme im späteren Leben verursachen kann: Erlernte Hilflosigkeit, Depressionen, Verlassensängste, Schlafschwierigkeiten.
Aber Kinder sind nicht aus Zucker. Natürlich darf man sie warten lassen und natürlich muss man nicht alle Bedürfnisse sofort auf der Stelle befriedigen! Das stärkt sie sogar! Man darf ihre Bedürfnisse dann nur nicht aus den Augen verlieren.
Was passiert, wenn man ein Kind im Alltagstrubel doch aus den Augen verliert?
Das Schöne an Kindern ist, dass sie uns ganz klar wissen lassen, wenn man sie zu oft vertröstet hat. Wenn ihr Aufmerksamkeits-Tank leer ist. Dann benehmen sie sich nämlich plötzlich daneben, werden in der Schule frech, „hören“ nicht mehr, malen Wände an oder schneiden sich selbst die Haare. Wenn eins unserer Kinder sich derart daneben benimmt, weiß man sofort, wem man sich dringend zuwenden muss, mit wem man dringend mehr positive Zeit verbringen muss.
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Wendet man sich dem einen Kind zu, muss man das andere automatisch vertrösten. Das führt ja nicht selten zu Eifersucht…
Das führt nur dann zu Eifersucht, wenn sie dauerhaft weniger Aufmerksamkeit von uns bekommen, als sie brauchen. Dann kommt es tatsächlich zur Konkurrenz um die elterliche Ressource „Aufmerksamkeit“. Wenn man es aber schafft, im Alltag allen Kindern gerecht zu werden, sich also jedem von ihnen immer wieder zuzuwenden, mit ihnen zu reden, mit ihnen zu spielen, ihnen gut zuzuhören, bleibt dieser Aufmerksamkeits-Tank gut gefüllt. In diesem Fall können Kinder total entspannt damit umgehen, wenn wir uns um ihre Geschwister kümmern.
Gerade die ältesten oder vernünftigen Kinder stecken oft am meisten zurück. Wie kann man ihnen vermitteln, dass sie genauso wichtig sind?
Indem man sie in ruhigen Momenten nicht vergisst. Sagen wir, es war gerade totales Chaos, alle Kinder wollten auf einmal etwas, und wir haben das älteste Kind gebeten, sein Bedürfnis zu verschieben. Irgendwann haben wir die Bedürfnisse der kleineren Kinder befriedigt und es kehrt Ruhe ein. Jetzt dürfen wir das große Kind nicht vergessen. Es stellt gerade keine Forderung an uns, aber es hatte ja vorhin ein Bedürfnis angemeldet. Gut ist es, jetzt aktiv auf das Kind zuzugehen. Das signalisiert ihm, dass es uns wichtig ist und wir es nicht vergessen haben.
Manchmal sind Eltern so geschafft, dass sie dann lieber abwarten, bis das große Kind erneut mit einem Anliegen zu ihnen kommt. Doch das macht das Kind zum Bittsteller und suggeriert ihm, dass seine Bedürfnisse keine hohe Priorität in der Familie haben. Das wiederum kann zu Eifersucht auf die Kleineren führen. Das große Kind hadert damit, dass es „immer vernünftig“ sein muss und „immer zurückstecken“ muss und lässt seinen Frust an den Geschwistern aus.
Wie entscheidend ist es, mit jedem Kind alleine Zeit zu verbringen?
Diese Alleine-Zeit mit einem Elternteil ist eine echte Wunderwaffe. Ich empfehle das allen, deren Kinder um gefühlt alles streiten, und die sich beschweren, weil alles ungerecht und unfair ist. Bei kleinen Kindern ist es nicht ganz leicht, diese Alleine-Zeit erst einmal einzuführen, weil die Geschwister häufig stören und nicht verstehen, dass sie auch bald an der Reihe sind. Wir haben deshalb im Buch ganz ausführlich erklärt, wie man diese exklusiven Zeiten Schritt für Schritt einführt.
Was in diesen Eins-zu-Eins-Situationen gemacht wird, hängt von den Vorlieben des Kindes ab. Mit meiner ältesten Tochter zum Beispiel gehe ich abends oft noch eine Runde spazieren gegangen. Sie erzählt mir auf unseren Rundgängen von der Schule, von ihren Träumen und Gedanken. Meine mittlere Tochter liebt es, wenn ich ihr vorlese. Mein kleinster Sohn nutzt seine Exklusivzeit oft, um mit mir Lego-Projekte aufzubauen. Es tut gut, so mit ihnen in Verbindung zu gehen, es stärkt unsere Bindung und vermindert tatsächlich die Eifersucht unter den Geschwistern.
Muss man Kinder alle gleich behandeln, um wirklich gerecht zu sein?
Kinder gleich zu behandeln, um gerecht zu sein, ist keine gute Idee. Dabei verliert man seine Leichtigkeit und Spontaneität, weil man andauernd im Kopf behalten muss, wann man welchem Kind was gegeben oder erlaubt hat, um das dann bei seinen Geschwistern genauso zu machen. Es ist auch gar nicht nötig. Wir sind doch alle Individuen mit unterschiedlichen Bedürfnissen!
Wenn Kinder aufbegehren, weil der eine etwas bekommen hat und die andere nicht, dann geht es eher selten wirklich um den Gegenstand. Man muss auf das Bedürfnis hinter dem Grund schauen. Sagen wir, das eine Kind war mit Opa Eis essen und das zweite Kind wird sauer und verlangt ebenfalls ein Eis, dann geht es nicht um das Eis, sondern um die Aufmerksamkeit von Opa. Das macht dann ein nachträglich gekauftes Eis von den Eltern nicht wett. Ein eigenes Date mit Opa aber schon.
Im Alltag mit drei Kindern habe ich als Mutter häufig ein bohrendes schlechtes Gewissen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich niemals wirklich allen gerecht werde. Wie können Eltern sich hier selbst bestärken?
Es ist eigentlich schon lange nachgewiesen, dass Kinder keine perfekten Eltern brauchen. Gut, ist gut genug, sagte schon der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott, und meint damit, dass man durchaus Fehler machen und menschlich sein darf. Kinder gehen nicht davon kaputt, dass man sich nicht jederzeit sofort um all ihre Bedürfnisse kümmern kann. Wichtig ist, dass man seine Kinder liebt und ihnen das so zeigt, dass sie es auch wirklich fühlen können. Wenn Sie das tun, sind Sie schon gut genug als Mutter.