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InterviewHirnforscher über Kinder und Natur

Lesezeit 6 Minuten

In Kursen der Naturschule Aggerbogen in Lohmar basteln Kinder mit und in der Natur.

Herr Hüther, Sie sagen, dass Kinder sich nur in der Natur richtig gut entwickeln. Meist bezieht sich diese Kritik auf motorische Defizite – ist auch der Geist betroffen?Gerald Hüther Ja. In den USA warnen schon die ersten Wissenschaftler vor einem „Nature-Deficit-Syndrome“ (dt.: Natur-Mangel-Syndrom). Dahinter steckt, dass Kinder entscheidende Erfahrungen nicht machen können, wenn sie in einer zu stark strukturierten Umwelt groß werden. Also in dem, was Kinderzimmer, Kindertageseinrichtungen und später Schulen bieten – Lebenswelten, in denen für die Kinder im Grunde alles überschaubar, vorhersagbar und kontrollierbar ist. Entscheidend ist aber, dass Kinder sich mit dem nicht Beherrschbaren in Beziehung setzen. Und das finden sie in der Natur. Dort kommt man nicht per Knopfdruck auf den Baum, kann nicht vorschreiben, wie etwas zu werden hat – die Natur entwickelt sich so, wie sie sich eben entwickelt.

Wie äußert sich denn so ein „Nature-Deficit-Syndrome“?Hüther Die Kinder entwickeln Symptomatiken wie Angst, Kontrollzwang, ADHS oder andere Verhaltensauffälligkeiten, können sich nicht konzentrieren, werden gewalttätig – weil sie bestimmte Erfahrungen, die notwendig sind, damit die entsprechenden Verschaltungsmuster im Hirn aufgebaut werden, nicht machen konnten. Es ist eben nicht so gut, wenn man immer schon weiß, was passiert, wenn man auf den Knopf drückt.

Und was passiert mit dem Gehirn in der Natur?Hüther Man sagt immer: Es kommt darauf an, dass Kinder möglichst viel lernen. Aus der Hirnforschung wird aber immer deutlicher, dass Lernen ein sehr undifferenzierter Begriff ist. Im Grunde kommt es auf etwas anderes an, das wenig mit Wissensaneignung zu tun hat: Dass Kinder die Gelegenheit bekommen, eigene Erfahrungen zu machen. Nur die führen dazu, dass im Frontalhirn bestimmte Netzwerke aufgebaut und stabilisiert werden können. Wir nennen dieses Phänomen nutzungs- oder erfahrungsabhängige Neuroplastizität, die Psychologen nennen es exekutive Frontalhirnfunktionen. Dazu zählen die Fähigkeit, eine Handlung zu planen, die Folgen seines Handelns abzuschätzen, sich in andere hineinzuversetzen, Verantwortung zu übernehmen, Impulse zu kontrollieren, Frust auszuhalten… diese Liste könnte ich länger fortführen, aber Sie merken: Nichts davon kann man unterrichten. Das können Sie einem Kind hundertmal sagen – es muss selbst spüren, wie schön es ist, auf andere einzugehen, nicht nur rumzubrüllen, sondern auch mal zuzuhören. Nur dann kann im Hirn die entsprechende Verschaltung aufgebaut werden, die dazu führt, dass das Kind das immer leichter und besser machen kann – und all diese sogenannten Meta-Kompetenzen aufbaut, die für die Lebensbewältigung wichtig sind.

Buchtipp Gerald Hüther, Herbert Renz-Polster: „Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen.“, Beltz, 262 Seiten, 17,95 Euro. Ab Montag, 9. September, im Handel erhältlich.

Filmtipp Dokumentarfilm „Alphabet“ von Erwin Wagenhofer, ab 31. Oktober ins Kino – darin setzt sich unter anderem Gerald Hüther kritisch mit unserem Bildungssystem auseinander.

Das klingt auch nach der Erfahrung von Grenzen, was ja häufig für Kinder gefordert wird… Hüther Das ist auch eine entscheidende Erfahrung, die Kinder in ihrer frühen Entwicklung machen müssten. Sie sollten auch lernen, dass man ab und zu ein bisschen Geduld haben muss, dass man hartnäckig sein und warten können muss. Und das geht automatisch, wenn Kinder zum Beispiel vor einem Mauseloch sitzen und die Maus sehen wollen – dann müssen sie dort ganz still warten bis sie rauskommt. Im realen Leben findet das kaum noch statt. Da gibt es kaum noch die Gelegenheit für ein Kind zu erleben, wie schön es ist, wenn es wartet. Wenn es nicht eingreift, sondern geschehen lässt.

Es heißt ja häufig, Kinder würden überfordert – was Sie sagen klingt eher so, als würden wir es ihnen zu leicht machen.Hüther Worauf es ankommt, ist, dass Kinder lebenstüchtig werden. Lebenstüchtig kann man aber nur werden, wenn man dem Leben auch begegnet. Da muss man raus und nicht im Kinderzimmern vor dem Computer bleiben.

Altersgemischte Gruppen gab es schon in meiner Kindheit in den 80er Jahren kaum noch – man kannte sich aus Kindergarten oder Grundschule und blieb unter sich.Hüther Aber das war falsch. Was wir da erlebt haben, stammt noch aus dem vorigen Jahrhundert, als alle gleich sein sollten und in den Schulen optimal für die Armee oder die Fabriken ausgebildet wurden. Durch Altersmischung entstehen neue Beziehungserfahrungen, die Kinder werden gemeinschaftsfähig. Das wird immer wichtiger, denn wir schicken unsere Kinder in eine Zukunft, die nicht mehr so leicht vorhersagbar ist wie im letzten Jahrhundert. Und wo lernen Kinder, mit unüberschaubaren Verhältnissen umzugehen? Eben nicht in strukturierten Räumen, sondern in der Natur. Und dort am Besten mit anderen zusammen, die möglichst verschieden sind und unterschiedliche Aufgaben meistern können.

Der Rückgriff auf die alten Werte rüstet Kinder also für die Zukunft?Hüther Die in Zukunft vor uns liegenden Aufgaben wird nur bewältigen können, wer gelernt hat, mit Unsicherheiten, nicht kontrollierbaren Umständen, Widerspenstigkeiten zurechtzukommen. Dafür ist die Natur der ideale Erfahrungsraum, weil sie in ihrer Vielfalt all das bietet.

Für Eltern, die in der Stadt wohnen und ein Einzelkind haben, dessen Freunde nicht raus dürfen, ist das schwierig umzusetzen.Hüther Natur kann man überall erleben. Es reicht schon eine Freifläche, irgendeine nicht bebaute Stelle – an jedem Ort, von dem der Mensch eine Weile die Finger lässt, entsteht sofort Natur.

Wer dafür plädiert, Kinder nach draußen zu schicken, fordert oft auch, sie möglichst wenig Medien konsumieren zu lassen. Und Sie?Hüther Ich würde das eine nicht gegen das andere ausspielen. Die modernen Medien gehören in unsere Welt, sie gehören auch zu den Kindern. Sie sind ein Werkzeug, das man beherrschen muss. Das Problem ist, dass sie deshalb attraktiv sind, weil sie etwas bieten, was im realen Leben kaum noch stattfindet – Abenteuer, Begegnung, Gemeinschaft, Entdeckungen, Gestaltungsmöglichkeiten. Aber: alles in einer virtuellen Welt. Das ist auch ok, aber so lernen Kinder nur, sich in virtuellen Welten zurechtzufinden, aber leider nicht im realen Leben.

Was ist, wenn ein Kind sich nicht begeistern kann für die Natur? Gibt es Wege, Kinder heran- beziehungsweise herauszuführen?Hüther Am einfachsten ist es, wenn Kinder bei Eltern aufwachsen, denen das selbst wichtig ist. Dann kommen sie automatisch mit. Eltern, die sich nicht für die Natur begeistern können, können ihre Kinder aber in Gruppen oder Einrichtungen geben, die Naturerfahrungen bieten – Waldkindergärten zum Beispiel, oder die Pfadfinder. Es gibt viele Angebote von begeisterten Naturforschern, die mit Kindern auf Entdeckungsreise gehen.

Das Gespräch führte Silke Offergeld

KölnNabu Stadtverband Köln e.V.Georg-Kaiser-Straße 550829 Köln 0221/7902889www.nabu-koeln.de

BUND Kreisgruppe KölnMelchiorstraße 350670 Köln 0221/724710www.bund-köln.de

Schutzgemeinschaft Deutscher WaldGut Leidenhausen51147 Köln02203/39987www.sdw-nrw-koeln.de

Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg Diözesanverband KölnRolandstraße 6150667 Köln0221 /93702050www.dpsg-koeln.de

Rhein-SiegNaturschule AggerbogenAm Aggerbogen 153797 Lohmar 02206/2143www.naturschule-aggerbogen.de

Leverkusen-OpladenNaturgut OphovenTalstraße 451379 Leverkusen02171/734990 www.naturgut-ophoven.de

LeichlingenWaldrauschIris Nolte & Sandra Pölcher Landrat-Trimbornstraße 30 42799 Leichlingenwww.waldrausch.com

Rhein-Berg/OberbergLVR-Freilichtmuseum LindlarSchloss Heiligenhoven51789 Lindlar02266/90100www.bergisches-freilichtmuseum.lvr.de

EifelLVR-Freilichtmuseum KommernEickser Straße53894 Mechernich-Kommern02443/99800www.kommern.lvr.de

Naturzentrum EifelDas Naturzentrum Eifel in Nettersheim bietet an jedem Sonntag Touren rund um Fossilien, Kräuter oder in den Klettergarten. Außerdem gibt es einen sechs Kilometer langen Erlebnispfad mit Oly dem Igel. www.naturzentrum-eifel.de

Rhein-ErftUmweltzentrum Friesheimer Busch Friesheimer Busch 150374 Erftstadt 02235/959450www.umweltzentrum-erftstadt.de