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InterviewSportpsychologe Moritz Anderten über Talentförderung von Kindern

Lesezeit 6 Minuten

Förderung im Leistungssport: Lina Mingers ist Deutschlands Nachwuchs-Hoffnung im Turmspringen. Aber wie fördert man so junge Menschen langfristig?

KölnHerr Anderten, was ist Talent überhaupt?

Moritz Anderten (33)

ist Geschäftsführer von mentaltalent.de, einer Initiative des Psychologischen Instituts der Sporthochschule Köln zur Betreuung des Nachwuchsleistungssports in NRW. Außerdem arbeitet er als Sportpsychologe am Olympiastützpunkt Rheinland.

Talent ist ein komplexes Zusammenspiel aus vielen Faktoren. Um Topleistung abrufen zu können, bedarf es einer guten taktischen Voraussetzung, körperlicher und mentaler Faktoren sowie eines passenden Umfeldes. Gleichzeitig muss es dem Talent gelingen, seine Leistung punktgenau im Wettkampf oder bei einer Vorstellung abzurufen. Bei der Feststellung, ob das eigene Kind besonders begabt ist, sollten Eltern sich auf die Meinung erfahrener Trainer oder Lehrer verlassen.

Dabei ist Talent kein ausschließlich motorisches, sondern vor allem ein psychologisches Phänomen. Gerade in jungen Jahren sind Kinder oft fremdbestimmt und folgen den Vorstellungen ihrer Eltern und Trainer. Erst später, wenn sie einen eigenen Lebensentwurf entwickeln, zeigt sich, ob der Weg in den Leistungssport oder künstlerische Bereiche wirklich dem eigenen Willen entspricht. Die zentrale Frage dazu lautet: Wie stark identifiziert sich ein Mensch mit dem, was er tut? Je höher die Identifikation, desto höher ist die Motivation, sich auch mit dem täglichen Üben auseinanderzusetzen.

Was spricht dafür, ein Kind besonders zu fördern?

Sehr viel. Kinder wollen in ihrer Leidenschaft und ihrem Potenzial gefördert werden. Das Erlebnis besser zu werden in Verbindung mit Menschen, denen sie vertrauen können, motiviert Kinder ungemein. Insgesamt sollte unsere Gesellschaft sie aktiver dabei unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Das gilt nicht nur für international konkurrenzfähige Talente, sondern für alle Kinder. Das Ausschöpfen der individuellen Möglichkeiten und das Austesten der eigenen Grenzen ist wichtig für die Entwicklung. Viele Menschen leiden später unter der fehlenden Förderung und wären im Kindesalter gerne mehr gefordert worden.

Für den Erfolg ist es aber extrem wichtig, dass das Kind von sich aus bei der Sache bleibt. Wenn es von alleine sagt: „Ich habe Lust, so viel Zeit in mein Hobby zu investieren, weil es mir Spaß macht und weil es zu mir dazu gehört – nicht weil ich damit unbedingt einen Wettbewerb gewinnen will“, dann hat es auch eine Chance auf Erfolg. Die Grenzen der körperlichen und psychischen Belastbarkeit dürfen dabei aber nicht dauerhaft überschritten werden.

Wie muss eine Förderung aufgebaut sein, damit sie effizient, aber auch körperlich und psychisch gesund für das Kind ist?

Die drei großen Stichworte dafür sind Langfristigkeit, Kontinuität und Stabilität. Wenn man ein Kind in einem bestimmten Bereich optimal fördern will, muss ein Mehrjahresplan her. Leistung entwickelt sich nicht punktuell von heute auf morgen, nur weil man ein paar Wochen viel trainiert, sondern muss über mehrere Jahre entwickelt werden.

Auch Phasen abseits des Hobbys mit einkalkulieren

Wir arbeiten zum Beispiel jetzt schon mit 13- oder 14-Jährigen Sportlern zusammen, die eventuell 2024 bei den Olympischen Spielen dabei sein könnten. In diesen Entwicklungsplänen müssen auch Phasen mit einkalkuliert werden, die für die Entwicklung als Mensch und nicht als Sportler oder Musiker wichtig sind, in denen die Kinder auch anderen Bedürfnissen nachgehen können. Besonders oft finden sich diese Phasen in der Pubertät, wenn auf einmal Partys oder das andere Geschlecht entdeckt werden.

Während dieser Phasen muss man damit rechnen, dass das Kind mal weniger übt oder weniger Wettkämpfen bestreitet. Wenn Trainer und Eltern das zulassen, erhöhen sie die Chancen, die Kinder langfristig im Sport oder in der Musik zu halten. Mit Druck von außen erreichen sie eher das Gegenteil: Dadurch steigt das Risiko von Burnout und Depression bei Kindern.

Lesen Sie im Folgenden, wie Moritz Anderten die Rolle von Eltern und Freunden bei der Talentförderung bewertet.

Soziale Werte müssen geachtet werden

Wie wichtig ist das soziale Umfeld bei einer Begabtenförderung?

Das soziale Umfeld, im Kindesalter ist das natürlich in erster Linie das Elternhaus, ist extrem wichtig. Dabei müssen Eltern für sich entscheiden, ob sie bereit sind, den Weg der Förderung mitzugehen, sowohl finanziell und zeitlich als auch ideell. Es ist wichtig, dass das Kind eine schulische und soziale Infrastruktur aufbaut und pflegt, um den Bezug zur Realität und im Erfolgsfall auch die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Jedes Kind darf stolz auf Erfolge sein, aber der Umgang damit muss sozial verträglich bleiben. Wenn beispielsweise ein junges Model mit seinem Hobby viel Geld verdient oder besonders hofiert wird, muss es im Kontakt zu seinen Ursprungsfreunden bleiben, um sich nicht über andere zu erhöhen. Karrieren können häufig kürzer sein, als man es sich wünscht.

Welche Aufgabe haben die Eltern?

Eltern sind für die Vermittlung dieser Werte und für die Einhaltung der schulischen Pflichten maßgeblich verantwortlich. Egal, wie talentiert das Kind in einem Bereich auch sein mag: Die Schule darf nicht vernachlässigt werden. Daneben sollten sie Unterstützung signalisieren, sich aber aus dem fachlichen Bereich des Hobbys heraushalten und das Kind selber machen lassen. Eltern müssen nicht bei jeder Übungsstunde am Rand sitzen, das setzt die Kinder sogar oft eher unter Druck, denn natürlich möchte jedes Kind seinen Eltern gefallen. Wenn Eltern das beherzigen, passiert es oft, dass die Kinder sie mit 17 oder 18 Jahren wieder von sich aus zu Wettkämpfen dazu bitten.

Wie ist das in Familien, in denen das Talent bereits eine Tradition hat?

Viele Topleister kommen aus Familien, in denen das Instrument, der Sport oder das Hobby auch schon in vorherigen Generationen präsent war. Wenn das der Fall ist, müssen Eltern darauf achten, ihre eigenen Träume nicht auf das Kind zu projizieren. Gleichzeitig kann es sich auch positiv auswirken, wenn reflektierte Eltern die Leistungsstrukturen kennen. Hinsichtlich des Rollenverständnisses müssen sie sich aber immer die Frage stellen: Als was betrachte ich mein Kind eigentlich? Als Sportler, Musiker oder Model oder auch noch als meinen Sohn oder meine Tochter? Wenn beispielsweise die Gespräche zu Hause nur noch ums Training, das Casting oder das Konzert kreisen, ist das ein Warnsignal dafür, dass das Hobby womöglich gerade überhandnimmt. Ein Sohn oder eine Tochter braucht die Eltern auch und besonders als fürsorgliche Eltern.

Was, wenn die Karriere zu Ende ist, weil sich das Kind verletzt oder von sich aus aufhört?

Die Halbwertszeit im Top-Segment, egal in welchem Fachbereich, ist meistens begrenzt. Für die Zeit nach der Profi-Karriere muss sich jeder Top-Athlet, Profi-Musiker und Schauspieler sozial und beruflich aufstellen. Wenn also die Förderung durch fremd- oder selbstbestimmte Faktoren beendet wird, braucht man Alternativen abseits des Fachbereichs. Denn um von seinem Talent auch nach der Karriere noch leben zu können, muss man wirklich zur internationalen Top-Spitze gehören.

Das Gespräch führte Merle Sievers

Lesen Sie hier die große Reportage über drei außergewöhnlich talentierte Kinder aus Köln.