Ja zum Leben„Das Fehlen meiner Beine ist unwichtiger als viele Menschen denken“
Glücklichsein ist eine Wahl. Diesen Satz hat Silke Naun-Bates zu ihrem Lebensmotto gemacht. Und dieser optimistische Blick auf die Welt ist keine Selbstverständlichkeit, blickt man auf das Schicksal, das die 49-Jährige als Kind ereilt hat. Mit acht Jahren hatte Silke Naun-Bates einen schrecklichen Unfall, infolgedessen ihr beide Beine amputiert wurden.
Die beteiligten Ärzten und auch die Menschen in ihrem Umfeld waren damals überzeugt: Silke gehört ab jetzt in die Schublade „körperbehindertes Neutrum“. Ein Leben als Frau, Partnerin, geschweige denn Mutter wird für sie unmöglich sein. Sie würde stets auf Hilfe und Unterstützung anderer Menschen angewiesen sein.
Nun, Silke Naun-Bates hat sie eines Besseren belehrt: Sie ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern und geht einer erfüllenden Arbeit nach. Woher sie die Kraft für dieses vollkommene Ja zum Leben nimmt, hat sie jetzt in ihrem Buch „Mein Koffer voller Glück“ aufgeschrieben, wir hatten auch noch ein paar Fragen an sie.
Als Sie acht Jahre alt waren, wurden Ihnen beide Beine amputiert. Was genau geschah damals?
Silke Naun-Bates: Wir, meine Schwester, zwei Freunde und ich waren mit meinem Hund spazieren. Er riss sich von der Leine los und rannte Richtung Hauptstraße. Ich hinterher und rutschte auf dem Bahnübergang aus, schlug mir mein Knie auf – und dann kam der Zug. Um mein Leben zu retten wurden die Beine amputiert.
An was aus dieser Zeit können Sie sich noch erinnern?
Naun-Bates: An den Unfall habe ich keine Erinnerung. Auch an die Zeit auf der Intensivstation erinnere ich mich nur sehr wenig. Doch eine Erinnerung ist sehr prägnant: Ich erinnere mich an den Moment, als ich aus dem künstlichen Koma erwachte. Ich wachte auf und wusste, was geschehen war. Zur Bestätigung schaute ich unter die Bettdecke und mein Wissen wurde zur Gewissheit. Beide Beine waren fort. Ich empfand das nicht als schlimm und hatte auch keine Angst. Es war ein wenig so, als wenn es so hätte sein sollen. Es ist schwer in Worte zu fassen.
Heute führen Sie ein scheinbar „normales“ Leben, Sie haben einen Mann, einen Job und zwei Kinder. Hatten Sie beim Aufwachsen der Kinder Ängste, dass ihnen Ähnliches passieren könnte?
Naun-Bates: Nein, niemals. Ängste kamen erst, als einige, mir sehr nahestehende Menschen starben. Damals stellte ich mir die Frage: „Was kann dir jetzt noch geschehen, was dich zerbrechen kann?“ Und als Antwort kam: Wenn deinen Kindern etwas geschieht. Eine ganze Zeit lang habe ich sie kaum von meiner Seite gelassen. Ich agierte sehr ängstlich.
War das mit der Schwangerschaft und Geburt unproblematisch?
Naun-Bates: Die Schwangerschaften und Geburten verliefen, entgegen der Erwartungen der Ärzte, unproblematisch. Beide Kinder kamen per Kaiserschnitt auf die Welt. Das war jedoch von Beginn an klar. Eine „normale“ Geburt wäre aufgrund des dünnen Narbengewebes eventuell doch risikoreich geworden.
Wie haben Sie Ihren Alltag gemanaged, als die Kinder mobil wurden?
Naun-Bates: Ich denke, nicht sehr viel anders als andere Frauen auch. Was mich in der Rückschau nach wie vor erstaunt, ist, dass beide Kinder sich auf natürliche Weise der Situation „anpassten“. Das bedeutet: Sie bewegten sich selten weit von mir weg und lernten auf einen Stopp von mir rasch zu reagieren. Eventuell habe ich dieses „Stopp“ etwas vehementer vertont, da mir klar war, dass ich nicht „schnell mal“ hinterher sprinten kann.
Wie Silke ihren Mann kennengelernt hat und ob sie, wenn sie könnte, die Zeit zurückdrehen würde, lesen Sie auf der nächsten Seite.
Wie war denn das damals überhaupt, als Sie Ihren Mann kennenlernten?
Naun-Bates: Sie sprechen von meinem zweiten Mann? Wir lernten uns auf der Arbeit kennen. Ich war damals als Seminarleitung tätig. Mein Job war es, Menschen, die aufgrund von Unfällen oder Krankheiten ihre gewohnte Tätigkeit nicht mehr ausüben können, dabei zu unterstützen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, den sie ausüben können und wollen.
Und dann haben Sie sich gleich verliebt?
Naun-Bates: Ja, wir haben uns verliebt – und dann ging alles ziemlich rasch. Das Fehlen der Beine spielt dabei weniger eine Rolle als viele Menschen denken.
Als Sie den schweren Unfall hatten, ist niemand in Ihrem Umfeld davon ausgegangen, dass Sie mal ein solches Leben würden führen können. Wie schaut Ihr Umfeld jetzt auf sie?
Naun-Bates: Es zeichnete sich ziemlich schnell nach dem Unfall ab, dass ich mich weniger einschränken lasse, als die meisten Menschen vermuteten, so dass es mein damaliges und jetziges Umfeld nicht so sehr verwundert. Sie kennen mich ja.
Kann es sein, dass Sie versuchen, immer das Beste aus der Situation rauszuholen?
Naun-Bates: Sicher. Doch würde ich es etwas anders beschreiben. Ich versuche es nicht nur – ich mache das Beste aus jeder Situation und ich strebe stets danach, auch die beste Version meines Selbst zu leben. Gelingt noch nicht immer – doch immer öfter.
Sie haben den Vergleich. Sie wissen, wie sich ein Leben mit Beinen und ein Leben ohne Beine anfühlt. Würden Sie die Zeit zurückdrehen wollen, um diesen Unfall ungeschehen zu machen?
Naun-Bates: Ich denke nicht, dass mit Beinen alles anders wäre. Vielleicht hätten sich die Erfahrungen anders gestaltet, doch im Kern wäre ich immer noch Silke. Wie wäre mein Leben mit Beinen verlaufen? Ich weiß es nicht. Wären meine Beziehungen anders verlaufen? Meine berufliche Entwicklung? Hätte ich andere Kinder? Würde meine Schwester noch leben? Wer kann das schon sagen? Ich nicht. Es ist mehr als fein, wie es ist. Wieso sollte ich das ändern wollen?
Was müsste sich in unserer Gesellschaft noch ändern, damit sich alle zugehörig fühlen können – ob mit oder ohne Handicap?
Naun-Bates: „Sich zugehörig fühlen“ beinhaltet bereits einen Teil der Lösung. Ein Schlüssel, weshalb ich mich stets „zugehörig“ gefühlt habe, war, dass ich mich nie anders empfand. Wir alle haben Emotionen, Gedanken, Gefühle, unsere Leidenschaften, Fehler, Schwächen und Probleme. Wir lieben, lachen, geben und nehmen. Wir sind einzigartig und gleichen uns. Wenn wir dies wirklich erkennen, werden wir beginnen, auf natürliche Art und Weise miteinander umzugehen. Hilfe und Unterstützung muss dann nicht mehr eingefordert werden – sie folgt natürlich und selbstverständlich, da es einem zutiefst menschlichen Bedürfnis entspringt.
Dies setzt voraus, dass weder der Mensch mit Behinderung sich als „Opfer“ der Gesellschaft fühlt, noch der Mensch ohne Behinderung sich als „Gönner“ empfindet oder aus Mitleid handelt. Ehrliche Selbstreflektion und eine offene Kommunikation auf beiden Seiten kann bereits vieles bewirken.
Sie bezeichnen sich als glücklich. Was ist für Sie Glück?
Naun-Bates: Mein Glück liegt unter der rauschenden, manchmal aufbrausenden Oberfläche der Emotionen. Es ist der Ort in mir, von dem aus ich dem tobenden Leben zuschaue und schlicht und einfach glücklich bin, Teil dessen sein zu dürfen. Auch das Glück der Emotionen weiß ich sehr zu genießen. Doch dieses ist vergänglich.
Buchtipp:Silke Naun-Bates, Mein Koffer voller Glück, Sheema-Medien, 2016
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