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Keine Nachricht, keine ErklärungWie Eltern leiden, wenn Kinder den Kontakt abbrechen

Lesezeit 8 Minuten
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Wenn Kinder den Kontakt zu den Eltern abbrechen, leidet die ganze Familie darunter.

Wie lebt man weiter, wenn der eigene Sohn den Kontakt abgebrochen hat? Susanne Schuster* weiß nicht, wie es Timo (26) geht und was er macht. Über die Gründe für das Ende des Umgangs miteinander kann sie nur spekulieren, denn ihr jüngstes Kind meldet sich seit drei Jahren nicht. Plötzliche Kontaktabbrüche sind kein seltenes Phänomen, meist passieren sie in der Familie, oft aber auch in Freundschaften und in Liebesbeziehungen.

Manchmal schreibt sie ihm noch E-Mails. Sie enden immer mit einem kleinen Symbol, einer offenen Tür. Dass er jeder Zeit zurückkommen kann, das schreibt Susanne Schuster nie. „Solche Worte wären zu aufdringlich und kitschig, das würde Timo nicht mögen“, glaubt sie. Die kleine offene Tür ist subtiler. Sie ist sich sicher, dass ihr Sohn das Zeichen versteht. Doch eine Antwort kam bisher auf keine ihrer Mails.

Alle Verbindungen gekappt

Timo meldet sich nicht und reagiert auf keinen Kontaktversuch. Inzwischen seit mehr als drei Jahren. Der erwachsene Sohn hat alle Verbindungen zur Familie gekappt. Zu Mutter, Vater, Großeltern, Uroma und dem älteren Bruder. „Wenn mir früher jemand von so etwas erzählt hätte, ich hätte gedacht, was muss da Furchtbares passiert sein in dieser Familie“, sagt Susanne Schuster, 49. Doch in ihrer Familie ist nichts Furchtbares passiert. Zumindest nicht aus ihrer Sicht und aus der ihres Mannes.

Rückblickend erzählt die Mutter, dass Timo, der Zweitgeborene, schon immer ein besonderes Kind gewesen sei. Sehr liebebedürftig und anhänglich. Nach einem Streit habe er jedes Mal nachgefragt, ob jetzt auch wirklich alles wieder gut sei. „Nie trennten wir uns im Bösen, wenn wir uns auf den Weg zur Schule oder Arbeit gemacht haben.“ Wissbegierig und klug sei er, gleichzeitig sehr emotional und verträumt. Hochsensibel nennt man solche Menschen heute. Timo himmelte seinen älteren Bruder an und eiferte ihm nach, empfand sich aber offenbar Zeit seines Lebens in dessen Schatten stehend. „Ich werde ja nie schaffen, was du hast“, soll er einmal zu ihm gesagt haben.

Sie rätselt, er schweigt

Was war ausschlaggebend für den Kontaktabbruch? Susanne Schuster kann rückblickend nur rätseln. Denn der Einzige, der ihr eine Antwort geben könnte, schweigt. „Kurz nach dem Bruch ist mein älterer Sohn Vater geworden. Vielleicht konnte Timo dieses Bild von der neuen kleinen Dreierfamilie nicht ertragen.“ Sie und ihre Verwandten sind ratlos – und machtlos. Kurz vor dem großen Bruch hatte die gesamte Familie noch gemeinsam bei Timos Umzug geholfen. Und dann das.

„Ich komme heute nicht. Ihr wisst schon, warum.“

Es passierte am 50. Geburtstag ihres Mannes. Schon in den Tagen vorher hatte es mehrere Diskussionen mit dem Vater über Gott und die Welt gegeben. Am Geburtstagsmorgen dann die SMS von Timo: „Ich komme heute nicht. Ihr wisst schon, warum.“ Susanne Schuster war so erschüttert, dass sie die Nachricht ihrem Mann erst gar nicht zeigen wollte. Timo kam tatsächlich nicht. Gemeinsam mit ihrem Bruder suchte die Mutter ihren Sohn noch einmal auf. Timo ließ sich nicht überreden und erklärte sich auch nicht.

Was Psychologen zum völligen Kontaktabbruch sagen

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Nicht alle Kontaktabbrecher hatten vorher ein schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern – eher im Gegenteil.

Seit diesem Tag herrscht Funkstille. Alle Verwandten blockierte er nacheinander auf Facebook. Auch seine Oma, als sie ihm schrieb: „Warum tust du mir das an?“ Mit Vorwürfen kommt man an Kontaktabbrecher nicht heran, treibt sie womöglich nur noch weiter von sich weg. Doch auch freundliche, liebevoll gemeinte Briefe bewirkten nichts. Timo lässt sie bis heute unbeantwortet.

Dauerhaftes Schweigen als Wehrmittel, als letztmöglicher Rückschlag, als Liebesentzug, der deutlicher nicht sein kann. So leise und doch so laut. Psychologen sind sich einig: Eine gute Lösung ist der plötzliche Abbruch nicht, für keinen der Beteiligten. Denn er löst den bestehenden Konflikt nicht. Die Betroffenen bleiben in ihren negativen Gefühlen miteinander verbunden. Auch in der Stille.

Das Thema ist in vielen Familien allgegewärtig

„Schweigen hat eine immense psychodynamische Kraft. Die Wirkung basiert auf der Gewährung und dem Entzug von Hoffnung.“ So schreibt es Tina Soliman. Die Hamburger Autorin kennt Hunderte Fälle wie den von Familie Schuster. Alle sind verschieden und ähneln sich doch. Soliman forscht seit vielen Jahren zum Thema und hat zwei Bücher veröffentlicht, „Funkstille“ und „Der Sturm vor der Stille“. Auf ihre Werke hat sie mehr als tausend hoch emotionale Reaktionen von Betroffenen erhalten, wie sie auf ihrer Webseite schreibt. Das Thema ist kein Randthema, sondern scheint in vielen Familien gegenwärtig.

Genauso wie in ehemaligen Freundschaften und Partnerschaften. Plötzlich meldet sich der eine einfach nicht mehr und lässt alle Annäherungsversuche ins Leere laufen. „Es geht darum, gehört zu werden, indem man nichts von sich hören lässt“, beschreibt es Soliman. Sie ist sich sicher, dass ein Kontaktabbruch niemals aus heiterem Himmel passiert. Auch wenn es die Verlassenen so empfinden, gehe dem Bruch in der Regel eine lange Leidensgeschichte des Abbrechers voraus.

Gab es Anzeichen?

Die Frage hat sich Susanne Schuster immer und immer wieder gestellt. „Man rechnet als Mutter ja nicht damit. Von daher gab es für mich keine Anzeichen.“ Der Umzug vom Dorf in die große Stadt ist Timo als Kind sehr schwer gefallen, dieses plötzliche Herausgerissenwerden in der zweiten Klasse. Darunter hat er gelitten. „Natürlich fragen wir uns heute: Was hätten wir anders machen können?“ Aber diese Fragen helfen ihr nicht weiter. Alle Eltern machen Fehler. Und jedes Kind hat seine eigene Wahrnehmung der Geschehnisse. Gewalt habe es in der Familie nicht gegeben. „Im Gegenteil, wir hatten eine sehr enge und gute Beziehung zu unserem Jüngsten.“ Bei ihnen habe es eine Kultur des Sprechens gegeben. Nicht eine der Stille, wie in vielen anderen betroffenen Familien, in denen Schweigen stets als Mittel der Bestrafung und Machtdemonstration gewirkt hat.

Viele Kontaktabbrecher waren vorher eng mit Familie verbunden

Nicht alle Kontaktabbrecher hatten ein desaströses Verhältnis zu ihren Eltern, im Gegenteil. Oft sind es gerade die Kinder, die besonders eng mit Mutter oder Vater verbunden waren. Die ab einem bestimmten Zeitpunkt keine andere Möglichkeit mehr sehen, sich freizuschwimmen aus der für sie zu engen Symbiose, als mit diesem drastischen Schritt. Timo war, wie sein großer Bruder, ein Wunschkind. „Offenbar hat er nicht gemerkt, dass wir stolz auf ihn sind. Er hat unsere Wertschätzung vielleicht nicht gespürt.“

Der Kontaktabbruch ist meist die Folge eines Prozesses, der aus vielen kleinen zerstörerischen Momenten besteht. „Lebensbestimmende Erfahrungen können von sehr leiser Art sein. Manche Worte oder Verhaltensweisen verletzen so sehr, dass sich ein Sturm entfacht, der nicht mehr zu bändigen ist“, so Soliman. In vielen Gesprächen mit Betroffenen sei ihr deutlich geworden, dass sich die gleiche Situation für Abbrecher und Verlassene völlig anders darstellen kann.

Wovor Susanne sich fürchtet und warum ihr ihre Familie Halt gibt

Susanne Schuster denkt jeden Tag an Timo. Wo er jetzt wohl ist? Womit verdient er sein Geld? Ist er glücklich? Sie hofft es. Manchmal, wenn sie durch die Stadt läuft, durchzuckt es sie kurz. Ist er das? Nein, er ist es nicht. Nur ein anderer junger Mann, der ihm aus der Ferne ähnelt. Gleichzeitig hat sie Angst vor einem Zusammentreffen. Was soll man auch sagen, wenn jedes Wort falsch sein und den so lange erhofften Kontakt gefährden könnte?

In einer Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern hat sie eine Betroffene kennengelernt, die ihre Tochter in der U-Bahn gesehen und daraufhin angesprochen hat. Die Tochter hat sich nur wortlos umgedreht und die Bahn an der nächsten Station verlassen. Vor solch einem Moment fürchtet sich Susanne Schuster. Doch noch schlimmer ist für sie, sich in der Situation so gefangen und hilflos zu erleben. Ein Gefühl, als ob der Sohn gestorben wäre, und doch anders. „Wir können nicht mal richtig trauern und abschließen. Weil wir immer noch Hoffnung haben.“

Susanne ging mit dem Kontaktabbruch immer offen um

Ihr Mann und ihr erster Sohn möchten inzwischen nicht mehr über Timo sprechen. Sie selbst hat anfangs Halt in der Selbsthilfegruppe gefunden. Heute ist sie dankbar für ihr soziales Netz, nicht nur ihr Mann, auch ihre Familie und Freunde stehen ihr bei. Anders als viele andere Betroffene ist sie mit dem Kontaktabbruch, der größten Wunde ihres Lebens, von Anfang an offen umgegangen. Sie hat allen davon erzählt. Doch im Bekanntenkreis hat sie die Erfahrung gemacht, dass nach einer Weile auch keiner mehr so richtig viel davon hören will. „Es passiert ja nichts Neues. Es gibt keine Entwicklung.“ Dennoch setzt sie sich dafür ein, das Thema zu enttabuisieren. „Depressionen und Burn-out sind in den vergangenen Jahren salonfähig geworden, warum der Kontaktabbruch nicht? So viele sind betroffen, fast jeder kennt jemanden im erweiterten Familien- oder Bekanntenkreis.“

Und nicht nur die Verlassenen, auch die Abbrecher leiden. Wer schweigt, verarbeitet nicht zwangsläufig das Erlebte. Denn was immer auch passiert ist, die eigene Familiengeschichte lässt sich nicht abschneiden wie ein welkes Blatt vom Zweig. Oft verstehe der Abbrecher erst Jahre später den Grund, dass die Funkstille etwa mit einer unverarbeiteten Verletzung zu tun hatte, so Tina Soliman. „Wenn wir jemanden verlieren, hören wir nicht auf, ihn zu vermissen – das gilt für beide Seiten.“

„Er wäre bestimmt ein klasse Onkel.“

Ja, es gibt viele Tage, an denen es Susanne Schuster „so richtig erwischt“ – nicht nur an Geburtstagen oder Weihnachten. Kürzlich hat sie, während einer Reise nach Griechenland, wieder besonders viel an Timo gedacht, an einen früheren gemeinsamen Urlaub dort. Und die Gedanken sind fast immer positiv, die Glücksmomente, die sie mit ihrem Sohn erlebt hat, werden ihr jetzt noch bewusster. Aber auch die anderen Gefühle sind häufig vorhanden. Trauer, Hilflosigkeit und Wut. „Besonders schade finde ich, dass er nichts weiß von unseren zwei Enkeln. Er wäre bestimmt ein klasse Onkel.“

Sie versucht, positiv zu bleiben, zu akzeptieren, trotz allem das Gute im Leben zu sehen. Gleichzeitig ist sie vorsichtiger geworden, gerade im Umgang mit ihrem ersten Sohn. „Solch einen Verlust würden wir nicht noch einmal verkraften“, sagt Susanne Schuster. Sie hofft weiter. Auf ein Wiedersehen. Eine Aussprache. Wenigstens auf ein Lebenszeichen. Die Tür steht noch immer offen.