NesthockerWas tun, wenn das erwachsene Kind keinen Plan hat?
Der Schulabschluss ist schon eine ganze Weile her, und der Sohnemann hat noch keine Ahnung, was als Nächstes kommt. Also wohnt er erst einmal weiter bei den Eltern, chillt ein bisschen, strandet so durch die Tage. Ist ja auch bequem und praktisch, das sichere Nest zu Hause, mit Mamas Ratschlägen und Papas Kochkünsten. Doch was, wenn aus Wochen, Monate oder sogar Jahre werden? Wenn aus dem Plan, übergangsweise noch ein bisschen bei den Eltern abzuhängen, eine Art Dauerzustand wird?
Wir haben mit dem renommierten Jugend- und Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus Hurrelmann über das Thema Nesthocker gesprochen.
Junge Menschen hängen orientierungslos bei den Eltern ab und schaffen den Übergang ins eigene Leben nicht. Ist das ein Phänomen unserer Zeit?
Klaus Hurrelmann: Ja, es ist ein allgemeiner Trend, lange im Elternhaus zu bleiben. Die jungen Menschen leben heute so lange zuhause wie noch nie, das belegen auch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Zwölf Prozent der 30-jährigen jungen Männer leben noch bei den Eltern. Diesen hohen Wert hat es noch nie gegeben.
Sie sprechen von Männern – stranden die häufiger bei Mama und Papa?
Hurrelmann: Ja, es sind vor allem junge Männer, die länger zuhause wohnen. Die jungen Frauen heute treten beim Ablösen nicht so stark auf die Bremse wie die Männer. Die jungen Frauen sind in einer Aufbruchstimmung. Wie die Jugendstudien zeigen, wollen sie das traditionelle Muster „Kinder, Küche, Kirche, Kommune“ beibehalten, aber auf jeden Fall um das „K“ der „Karriere“ ergänzen. Sie haben ihre Geschlechtsrolle neu definiert und erweitert. Sie sind agiler, flexibler, krisenfester und daher auch früher selbständig. Die jungen Männer sind da vergleichsweise träge.
Was könnten die Gründe sein, dass immer mehr junge Erwachsene ohne Plan sind?
Hurrelmann: Das ist eine Reaktion darauf, dass für die junge Generation der weitere Lebenslauf nicht mehr so planbar ist wie das etwa bei den eigenen Eltern der Fall war. Das damals vorherrschende Muster – Ausbildung, Berufseintritt, Familiengründung – ist heute nicht mehr klar. Junge Leute lassen sich Zeit und wollen sich nicht unter Druck setzen lassen.
Spielt es eine Rolle, dass die jungen Menschen heute so viele Möglichkeiten haben?
Hurrelmann: Das ist ganz eindeutig. Es gibt circa 300 Berufsausbildungen und etwa 18.000 verschiedene Studiengänge. Die jungen Leute haben eine derartige Fülle von Alternativen und Optionen, dass das schon wieder zur Belastung wird. Sie können sich nicht mehr orientieren und sind überfordert. Vielfalt und Offenheit machen Entscheidungen schwieriger.
Und bei Mama und Papa zu bleiben gibt ein sicheres Gefühl?
Hurrelmann: Eltern bieten heute oft eine wunderbare Partnerschaft auf Augenhöhe an und stellen tolle Ressourcen zur Verfügung. Wenn das Kind aber länger bleibt, ist die Frage: Warum machen die Eltern das mit?
Ich vermute, dass diese Situation auch für sie Vorteile hat. Sie bekommen die neuesten Entwicklungen ihrer Kinder mit. Sie sehen, wie man sich kleidet, was Mode ist, wie man spricht. Und vor allem profitieren sie davon, dass die Kinder sich mit allem Digitalen auskennen, da lebt quasi der Apple-Dienst mit im Haus. Außerdem erkaufen sich die Eltern Zeit, in der sie noch nicht über sich als Paar nachdenken müssen.
Die Eltern klammern also und lassen die Abnabelung nicht zu?
Hurrelmann: Das kommt vor. Es ist falsch, das Ganze nur auf die Jugendlichen zu schieben und einfach zu sagen, dass sie unreif sind und nicht selbständig werden wollen. Denn die Eltern lieben es auch, wenn sie die Kinder bei sich haben.
An sich eine schöne Entwicklung, oder?
Hurrelmann: Dieser Trend zeigt, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Kinder gut ist. Das muss man wertschätzen. Die Eltern stellen sich gut auf ihre Kinder ein und die haben ein faires gleichberechtigtes Verhältnis zu ihren Eltern.
Aber es gehört zum Lebensrhythmus dazu, dass man irgendwann flügge wird und aus dem Elternhaus auszieht. Wenn sich dieser Schritt verzögert, ist das kein Problem, wenn er aber gar nicht stattfindet, dann kann es keine echte Ablösung geben. Und das ist eine problematische Entwicklung. Der Schritt zur Selbständigkeit bleibt oft aus.
Häufig erfolgt er auch in Etappen und bereits flügge gewordene Kinder kehren vorübergehend wieder ins elterliche Nest zurück…
Hurrelmann: Manche Kinder kommen auch gerne wieder zurück, wenn eine Weichenstellung nicht funktioniert oder etwas nicht geklappt hat. Es gibt immer wieder eine Rückflucht. Das Schwierige ist ja: Selbst wenn ich einen guten Schul- oder sogar einen guten Berufsabschluss habe, gibt es immer noch keine Garantie. Viele wissen dann immer noch nicht, wie es weitergeht. Soll ich weiter studieren? Soll ich schon in den Beruf? Es könnte die falsche Entscheidung sein.
Wie motiviert man sein Kind, die Zukunft in die Hand zu nehmen?
Hurrelmann: Ich würde allen Eltern empfehlen, das Thema deutlich anzusprechen. Und eine Art Vertrag mit ihren Kindern zu machen, mündlich oder schriftlich, bis zu welchem Lebensjahr beziehungsweise bis zu welchem Lebensabschnitt das Kind bei den Eltern wohnen bleibt. Beide Seiten müssen eine Sicherheit und eine Gewissheit haben. Die Eltern sollten deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie nicht möchten, dass das Kind dauerhaft bei ihnen lebt. Aber sie sollten auch darüber sprechen, wie die Situation nach dem Auszug geregelt werden könnte.
Wie sehr dürfen sich Eltern einmischen?
Hurrelmann: Studien zeigen, dass Eltern die wichtigsten Berater in allen Bildungs- und Karrierefragen sind. Auch hier gibt es kritische Extremformen, wie Mütter, die für die kranke Tochter zur Vorlesung gehen. Das ist dann wirklich eine Fortsetzung der Helikopter-Verhaltensweisen, die manche Eltern kleinerer Kinder haben. Diese Überfürsorglichkeit, bei der das Kind nie richtig selbständig wird und niemals ein Risiko eingehen kann, ist nicht gut. Wenn Eltern bei ihren fast erwachsenen Kindern immer noch so sind, ist das für die jungen Leute praktisch, aber es macht sie nicht stark.
Bei manchen jungen Leuten scheint es so, dass sie sich von Mama einfach zu gerne bedienen lassen. Müssen Eltern hier etwas heftiger schubsen?
Hurrelmann: Ja. Sie müssen klar artikulieren: Wir möchten nicht, dass du hier ewig wohnen bleibst. Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um auszuziehen. Man muss das Küken auch manchmal rauswerfen, damit es fliegen lernt. Diesen Mut müssen Eltern haben.
Sie sollten allerdings darauf achten, dass das nicht zum falschen Zeitpunkt passiert. Und die Selbständigkeit länger vorbereiten. Das Kind muss schrittweise, schon beginnend im Grundschulalter, lernen, mit Geld umzugehen, Entscheidungen zu treffen und so weiter. Und dann können Eltern irgendwann sagen: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Wir unterstützen dich dabei, wenn du dein eigenes Leben beginnst.
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Wie können Eltern konkret beim Selbständigwerden helfen?
Hurrelmann: Ein Aspekt sind die Finanzen. Eltern könnten zum Beispiel vereinbaren, dass sie ab einem Altern von 25 nur noch die notwendigen Basiskosten zahlen. Den Rest muss das Kind sich irgendwie selbst organisieren. So eine Regelung macht selbständig, fördert die eigene Verantwortlichkeit. Finanzen sind ja die Ressourcen für die eigene Lebensgestaltung. Wenn das mit den Finanzen klappt, gelingen auch andere Entscheidungen. Dann rückt die eigene Wohnung in den Fokus. Hier sollten die Eltern darauf achten, dass sie nicht jeden Tag vorbeikommen. Und dass die Kinder die Wohnung selbständig bewirtschaften.
Das müssen die jungen Leute ja auch erst lernen…
Hurrelmann: Ja, natürlich. Wie bedient man eine Waschmaschine? Wie kauft man ein? Das ist ja das Bequeme am Hotel Mama, dass man diese lästigen Alltagssachen nicht machen muss – die aber zum selbständigen Leben dazu gehören.
Bringt die Schule solche lebenspraktischen Dinge auch bei?
Hurrelmann: Nein. Ich halte das für eines der größten Defizite, dass heute in der Schule nichts gelernt wird über wirtschaftliche Zusammenhänge wie Haushaltsökonomie und Kontoführung. Über Verbraucherverhalten und Haushaltsfähigkeiten. Das gehört in eine moderne Schule hinein. In der Schule soll ich lernen zu leben. Und deswegen schätze ich Schulen sehr, die das machen. Viele Berufskollegs sind da wirklich vorbildlich.