Tragen, FamilienbettDie Kinder immer ganz nah bei sich haben – ist das wirklich gut?
Köln – Wenn es um ihre Kinder geht, wollen Eltern alles richtig machen. Über den Weg scheiden sich jedoch die Geister. Jüngst wurde viel über die Erziehungsmethode Attachment Parenting diskutiert, die viel Nähe zwischen Eltern und Kinder voraussetzt.
Es geht um bindungsorientierte Elternschaft, bei der die Kinder im Elternbett mitschlafen, viel getragen und lange gestillt werden. Kann so eine Idee gut gehen, ohne dass die Eltern in die Erschöpfungsfalle tappen und sich selbst dafür aufgeben müssen?
Darüber haben wir mit Autorin und Stillberaterin Nora Imlau gesprochen, die ihre drei Kinder selbst nach den Ideen des Attachment Parenting großzieht.
Frau Imlau, Attachment Parenting ist derzeit in aller Munde, was genau verbirgt sich hinter dieser Erziehungsmethode?
Imlau: Der Begriff des Attachment Parenting – kurz AP – wurde in den 80er-Jahren geprägt von dem amerikanischen Kinderarzt William Sears, der einen Überbegriff oder ein Schlagwort für seinen Umgang mit Babys suchte. Dieser Umgang stellt den Aufbau einer sicheren Bindung zum Kind in den Mittelpunkt. Er sagt: Bei sicher gebundenen Kindern kommt der Gehorsam von ganz allein.
Hat er denn damit das Rad der Kindererziehung neu erfunden?
Imlau: Nein, es gab schon vor ihm bindungsorientierte Ansätze, einige sagen, Sears habe sich die guten Ideen nur zusammen gesammelt und sie dann einfach besser kommerzialisiert. Er sprach laut aus, dass Kinder als vollwertige Menschen auf die Welt kommen, die Bedürfnisse haben. Und dass es unser Job als Eltern ist, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Damit schaffte er es, eine öffentliche Debatte zu entfachen.
Welche?
Imlau: Früher hieß es ja noch, Babys bräuchten einen festen Rhythmus, man dürfe sie nicht zu sehr verwöhnen. Ich sage das Gegenteil: Man kann Babys nicht zu sehr verwöhnen. Die Angst, Tyrannen großzuziehen ist sehr tief verankert. Der nicht verhandelbare Grundsatz von AP ist die Überzeugung, dass Babys ihren Eltern signalisieren, was sie brauchen. Und dass Eltern durch die Erfüllung ihrer Bedürfnisse eine sichere Bindung zum Kind herstellen.
Aber AP bedeutet ja auch, dass Eltern ihre Kinder stillen, tragen und mit im eigenen Bett schlafen lassen sollen…
Imlau: Ja, das sind die berühmten sieben Baby B´s von Sears. Dazu gehören unter anderem Breastfeeding (Stillen), Bed Sharing (Familienbett), Babywearing (Tragen), aber eben auch Bonding nach der Geburt, Beware of Babytrainers (keine Schlaflernprogramme anwenden) und der für mich wichtigste Punkt: Balance and boundaries, also Balance und Grenzen. Bei AP sollen nämlich – anders als viele glauben – die Bedürfnisse aller Familienmitglieder in der Balance sein. Es bringt ja nichts, wenn sich die Mutter aufopfert.
Trotzdem kann beim Stillen nicht der Vater übernehmen. Und wenn ich als Frau arbeiten gehe, kann ich das Kind auch nicht den ganzen Tag tragen. Ist es am Ende also doch eine ziemlich anti-feministische Erziehungsmethode?
Imlau: Sears, der Schöpfer des AP-Begriffs, war tatsächlich ein sehr bibeltreuer, konservativer Mann, dessen Idee es war, Frauen wieder mehr in ihrer Mutterrolle zu sehen. Aber AP hat sich über die Jahre weiterentwickelt und auch Sears war lernfähig, das muss man ihm zugutehalten. AP verlangt von keiner Frau, sich aufzuopfern. Natürlich kann nur sie stillen, aber erschöpft ist sie davon nur, wenn sie gleichzeitig auch noch den ganzen Haushalt schmeißen muss. Da, sage ich, muss sie dann eben Hilfe haben und anderweitig entlastet werden. Es braucht gute Rahmenbedingungen, dann wird AP nicht zur Erschöpfungsfalle. Im Gegenteil, dann ist es sogar sehr praktisch.
Inwiefern?
Imlau: Ich habe auch drei Kinder und bin berufstätig. Trotzdem wachsen sie bindungsorientiert auf. Ich oder besser gesagt mein Mann und ich, wir sehen unsere Kinder als vollwertige Menschen. Das lässt sich mit jeder Lebenssituation vereinbaren. Wir sorgen dafür, dass unsere Kinder sicher gebunden groß werden. So haben wir uns die Tagesmutter für unser jüngstes Kind zum Beispiel danach ausgesucht, dass sie mit den Kindern auch bindungsorientiert umgeht.
Und in welcher Hinsicht finden Sie AP praktisch?
Imlau: Viele denken, man tappe als Mutter in die Erschöpfungsfalle, wenn man immer gleich springe, wenn das Kind weint. Wenn ich das Kind aber eh trage, dann muss ich gar nicht erst hinspringen, denn es ist ja bei mir. Und wenn es bei mir ist, weint es vermutlich ohnehin weniger, weil es sich sicher fühlt. Das gilt auch für die Nächte.
Wieso?
Imlau: Wer sein Kind im Kinderzimmer schlafen lässt, muss nachts aufstehen und hinlaufen. Wer im Familienbett schläft, kann es ganz einfach direkt im Arm beruhigen. Überhaupt kommt es dort gar nicht dazu, dass es alleine weinen muss, weil immer jemand bei ihm ist. Das erklärt sich ja auch evolutionär, die Idee des Kinderzimmers ist ja verhältnismäßig neu. Und wir müssen nicht mit unseren Kindern in einen Kampf treten. Die Idee von AP ist: Je mehr Nähe wir leben, desto weniger Probleme stellen sich.
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Ist es also kein Wunder, wenn AP oft mit Helikopter-Elternschaft gleichgesetzt wird, bei der immer über den Kindern gekreist wird?
Imlau: Ach, Helikopter-Eltern sind ja immer die anderen. Das ist ein abwertender Begriff für überbesorgte Eltern, die nicht nur um ihre Kinder kreisen, sondern sie auch nicht loslassen und ihnen nicht vertrauen können. Wenn es bei AP um Bedürfnisse geht, dann ist aber eben auch das Bedürfnis von Kindern nach Autonomie zu berücksichtigen. AP-Kinder sollten emotional beschützt und dann aber frei sein.
Nun entfachen immer wieder Konflikte zwischen Müttern. Warum setzt AP so viele Emotionen frei?
Imlau: Die Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern umgehen, ist sehr persönlich, viele definieren sich sehr stark darüber. Unsere Kinder sind uns nun einmal sehr wichtig. AP ist für mich keine Erziehungsmethode, sondern ein Wertesystem. Das ist für mich eine Menschenrechtsgeschichte, ein Kind mit der gleichen Würde zu behandeln wie einen Erwachsenen. Die Bedürfnisse des Babys sind gleich wertvoll wie die der Großen. Wenn eine alte Dame im Altenheim weint, kümmern wir uns auch. Wenn dann jemand sieht, dass ein Elternteil sein Kind weinen lässt, vielleicht sogar aus Erziehungsgründen, dann werden APler auch schon mal zum Menschrechtsanwalt.
Rühren die Konflikte zwischen Müttern auch von einer großen Erschöpfung her?
Imlau: Möglich. Es ist aber nicht richtig, AP für diese Erschöpfung verantwortlich zu machen. Es gibt einfach sehr wenige Elternpaare, die eine echte, faire Rollenverteilung leben. Wenn Mütter das erste halbe Jahr zu Hause bleiben, übernehmen sie oft nicht nur die Sorge fürs Baby, sondern auch den Haushalt. Wenn sie später in den Job zurückkehren, bleibt das leider oft so. Dabei müssten sie sich eigentlich mit ihrem Mann zusammensetzen und überlegen, was eine gerechte Aufgabenverteilung sein könnte.
Und das sieht AP vor?
Imlau: Ja. Deswegen finde ich auch den Punkt „Balance und boundaries“ bei AP so wichtig. Wenn ich auf meine und die Grenzen der Kinder achte, dann wird AP für mich zur Kraftquelle. Jetzt, gerade, während dieses Interviews, stille ich zum Beispiel meinen Sohn. Er muss nicht weinen, nicht warten, ich muss nicht aufstehen und erstmal Fläschchen kochen. Total praktisch – und für uns beide unkompliziert. Drei bis viermal am Tag lege ich mich auch bewusst mit ihm hin und nutze die Zeit als Pause. Ich weiß gar nicht, was ich ohne die machen würde… vermutlich hätte ich dann einfach mehr Stress.