„Papa hat sich erschossen“Was ein Suizid für Familien bedeutet
Erstmal einen Kaffee! Es ist der 6. Juli im Jahr 2008, die Sonne scheint in Kritzendorf in der Nähe von Wien. Saskia, damals 27, und verliebt, steht in einem Coffeeshop. In ihrer Hand hält sie einen Becher mit doppeltem Espresso und einem Schuss Milch, als ihr Handy klingelt. Ihre Mutter ruft an: „Papa hat sich erschossen.“
Der Anruf teilt Saskias Welt in ein Vorher und ein Nachher.
Erschossen. Erschossen? Der Kaffeebecher in Saskias Hand wird schwer. Sie schnappt nach Luft. Sie liebt Kaffee, aber diesen trinkt sie nicht mehr. Überhaupt wird sie, die Kaffeeliebhaberin, nie mehr einen Kaffee anrühren ab diesem Tag. Ihr ganzes Leben wird sich verändern.
Wie soll ich mit dem Wissen um das, was geschehen ist, weiterleben?
Gestern war doch noch alles ok, heute steht die Welt Kopf. „Plötzliche Verluste brauchen meist eine längere Verarbeitungszeit, da es so unbegreiflich ist“, sagt Mechthild Schroeter-Rupieper, Trauerbegleiterin und Gründerin von Lavia – dem Institut für Familien-Trauerbegleitung aus Gelsenkirchen. „Trauernde Angehörige nach einem Suizid werden oft durch den Tod überrascht oder erschreckt, erst recht, wenn es auf eine scheinbar brutale Weise erscheint.“
In Deutschland sterben jährlich rund 10.000 Menschen durch Selbsttötung. Das sind mehr, als durch Autounfälle ums Leben kommen. Fast jeder kennt jemanden, der jemanden durch Suizid verloren hat. Den direkten Angehörigen können in dieser Zeit die Familie und der Freundeskreis, helfen. Menschen, die nicht hinterfragen, sondern da sind und sich den Fragen stellen.
Sie rief ihn, bekam aber keine Antwort
Saskias Vater liebte Gewitter. Es donnerte, als ihre Mutter ihn am Abend in ihrem Haus im österreichischen Südburgenland nicht fand. Sie war gerade von einem Konzert zurückgekommen, sie rief ihn. Es regnete. Keine Antwort.
Da lag ihr Vater schon seit etwa einer Stunde tot im Hof. Sie fand ihn draußen, fast stolperte sie über ihn. Er lag unter seinem Lieblingsbaum im Garten. Er hinterließ einen Post-it Zettel für die Familie. Seine letzten acht Worte.
Ein Abschiedsbrief kann den Hinterbliebenen helfen, mit dem Geschehenen umzugehen. „Trotzdem wird kaum ein Angehöriger sagen: ´Ach so! Ja klar, ich verstehe...´", sagt Schroeter-Rupieper. Erschossen. Tot. Unglaublich.
„Ich will kein Leben, in dem er nicht mehr da ist.“
„Ich will kein Leben haben, in dem ich nicht genau weiß, warum mein Vater tot ist“, schreibt Saskia in ihrem beeindruckend klaren und eingängigen Buch „Papa hat sich erschossen“. „Ich will überhaupt kein Leben haben, in dem er nicht mehr da ist.“
Ihre Gefühle reichen in diesen Tagen von Angst, Zweifel, Schuld über Trauern, Sehnsucht, Verwirrung und dem Gefühl, „furchtbar vor den Kopf gestoßen worden zu sein.“ Der Tod erscheint ihr so unvorstellbar. Er? Jetzt? Warum?
Warum hat er es nicht länger ausgehalten? Warum hat er keine Hilfe angenommen? Warum hat er nichts gesagt? Warum war meine Liebe nicht ausreichend? Diese Fragen stellen sich Angehörige. Das dürfen sie auch. Zunächst.
Die Frage nach dem Warum
„Aber wenn man immer beim Warum und eigenen Schuldvorwürfen und Schuldzuweisungen hängen bleibt, wird Trauerarbeit schwerer gelingen“, erklärt Schroeter-Rupieper. „Erst wenn ich akzeptiere, dass ich für mich die Warum-Frage nicht befriedigend erklären kann oder wenn ich tatsächlich eine Antwort selber finde, werde ich nicht weiter nachforschen.“
Was den Hinterbliebenen helfen kann
Vielen Angehörigen hilft es, sich mit dem Suizid zu befassen um die Trauer besser bewältigen zu können. Auch Saskia macht sich auf die Suche nach Antworten. Sie recherchiert, sie schreibt – erst einen Artikel, dann ein Buch. Aber sie hat auch Renate, ihre Freundin aus Kindheitstagen, die immer für sie da ist.
Der Austausch mit Freunden, mit der Familie, mit Menschen, die zuhören, kann den Hinterbliebenen helfen. Und: Sich selbst zu stärken und zu stabilisieren, damit man auf negative Reaktionen von außen nicht empfindlich oder empfänglich reagiert.
Der Suizid als Nebenwirkung einer Krankheit
„Auch der Austausch mit anderen Betroffenen kann helfen, da die meisten Suizide eine Vorgeschichte – etwa Depressionen oder Psychosen – haben“, sagt Schroeter-Rupieper. „Wenn Angehörige verstehen, dass der Suizid eine Nebenwirkung einer Krankheit oder Verhaltensstörung ist, dann können sie den Tod eventuell anders akzeptieren.“
Es war ein Unfall, es war eine schwere Krankheit, es war Schicksal. Es gibt viele Wege, mit denen sich Angehörige den Tod später erklären oder ihn für sich ertragbarer machen können. „Den Suizid einen Freitod zu nennen, ist daher nicht der richtige Begriff. Die Maßnahmen, die wir Menschen in Notsituationen ergreifen, geschehen eben aus einer Not, nicht aus einer Freiheit heraus.“
Lernen, mit der Situation zu leben
Auch Saskia hat sich viel mit dem Tod ihres Vaters beschäftigt. Für sie ist dadurch zwar längst nicht alles gut geworden. Wohl aber hat sie gelernt, mit der Situation zu leben. Und eins, das hat sie sich vorgenommen:
„Ich werde mich nie erschießen. Ich glaube, wer einmal gespürt hat, was ein Suizid für die Hinterbliebenen bedeutet, wird sich selbst nicht töten. Als mein Vater sich in unseren Hof gelegt und in den Hinterkopf geschossen hat war das der größte Vertrauensbruch überhaupt. Ich weiß, dass er auch dachte, er ist uns eine Last, und ich weiß, dass er angenommen hat, wir wären sicher ein paar Monate traurig, aber dann erleichtert. Er hat noch nie so falsch gelegen.“
Hier finden Gefährdete, Angehörige und Hinterbliebene Hilfe:
- Selbsthilfe für Hinterbliebene nach Suizid eines Angehörigen bietet der Verein AGUS.
- Das Lavia Institut bietet Familientrauerbegleitung an.
- Notfallseelsorge bietet die bundesweite Beratungsstelle für Suizidgefährdete, auch als Suizid-Prävention:
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