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Kölner Pflegemutter erzählt„Natürlich schmerzt es sehr, wenn ein Kind uns verlässt“

Lesezeit 10 Minuten
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Der Abschied vom Kind auf Zeit schmerzt.

  1. Jährlich nimmt das Kölner Jugendamt bis zu 200 Babys in Obhut, weil die Eltern nicht in der Lage dazu sind, sie zu versorgen.
  2. Sehr schnell muss dann ein vorübergehendes Zuhause gesucht werden, zum Beispiel in einer Kurzzeitpflegefamilie.
  3. Eine Kölner Pflegemutter, die schon das sechste Kind aufgenommen und wieder abgegeben hat, erzählt von ihrem anspruchsvollen Job.

Köln – Es war ein Februarmorgen, fast auf den Tag genau vor einem Jahr, als Maria Krieger (alle Namen geändert*) Paula in Empfang nahm. Ihr sechstes Baby auf Zeit. Die Kölner Pflegemutter erinnert sich an den Moment, als sie im Besuchsraum der Kinder- und Jugendpädagogischen Einrichtung der Stadt Köln (KidS) zu ihr sagte: „Ich bin jetzt für dich verantwortlich“. Und wie sie dachte: Irre, dieses sechs Monate alte Wesen versteht mich sofort ganz genau. „Seitdem sind wir ein gutes Team“, sagt Krieger. Und Paula lacht wieder einmal dieses ansteckende Lachen, als wollte sie ihr damit zustimmen. „Paula ist ein Glücksfall“, sagt Maria Krieger. Das Kind habe ein gutes Urvertrauen, trotz ihrer traumatisierten Mutter, die phasenweise auf der Straße lebte und nach der Entbindung in einer Einrichtung für obdachlose Mütter. Dass Kinder wie Paula solch ein starkes Bindungsverhalten entwickeln, sei nicht selbstverständlich.

Maria Krieger hat es nämlich mit Kleinkindern zu tun, denen nicht gegönnt ist, bei ihren leiblichen Eltern aufzuwachsen. Weil diese aufgrund von Erkrankungen, Drogensucht, Obdachlosigkeit, Tod eines Partners oder Gewalterfahrungen überfordert damit wären. Oder schlichtweg nicht in der Lage dazu sind ihre Kinder zu versorgen. Weshalb das Jugendamt die Kinder kurzfristig aus der Familie herausnehmen muss. So will es das Gesetz, genauer: Paragraf 42 SGB 8.

65 Kölner Ersatzfamilien auf Zeit

KidS ist eine von drei Einrichtungen, die diese vom Kölner Jugendamt in Obhut genommenen Kinder betreut, 65 sind es momentan. Sie vermittelt die Kinder an Familien, die diesen für begrenzte Zeit einen sicheren Hafen bieten. Bis geklärt ist, ob das Kind zu seinen Eltern zurückkehren kann, dauerhaft zu Pflegeeltern kommt – oder in eine Wohngruppe, was sympathischer klingt als Kinderheim.

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Komm in unseren Kreis! 

„Hier in Köln vermitteln wir Jungen und Mädchen im Alter bis vier, maximal sechs Jahre, für bestenfalls sechs Monate“, sagt Margit Brück, Sachgebietsleiterin familiäre Hilfen bei KidS. Anderorts könnten sie auch schon mal 12 Jahre alt sein. „FBB-Stellen“ werden die Familien im Behördendeutsch genannt, die Abkürzung steht für „Familiäre Bereitschaftsbetreuung“. Die Kriegers, also Mutter Maria (54), Vater Tom (58), die Töchter Sarah (14) und Luise (11), sind ein Profi-Team in Sachen FBB: Paula ist das sechste Kind, das sie als Interims-Familienmitglied von jetzt auf gleich aufnehmen. Und wieder abgegeben. „Wir durften klein und kurz anfangen, und mitwachsen“, resümiert Maria Krieger ihre Kurzzeitpflege-Laufbahn. Die begann im Februar 2018. Klein, weil Kind Nummer eins, Marie, gerade einen Tag alt war; und kurz, weil sie schon nach vier Wochen wieder auszog. Als man für ihre Mutter, die bei der Geburt in der JVA einsaß, einen der wenigen Mutter-Kind-Vollzugsplätze in Deutschland gefunden hatte.

Pflegemutter ist eine Herzensangelegenheit und ein Beruf

Wenn Maria Krieger von den vergangenen vier Jahren als Pflegemutter erzählt, fallen immer wieder zwei Begriffe: Herzensangelegenheit und Herzensaufgabe. Sie sagt aber auch: Es ist ein Job. Für den sie sich im Jahr 2017 nach reiflicher Überlegung entschieden und dafür ihre Tätigkeit als Mitarbeiterin in der Unternehmenskommunikation eines Versicherers an den Nagel gehängt hat. „Der 50. Geburtstag war eine Art Zäsur, da überlegt man sich: Will ich den Job bis zur Rente ausüben? Gibt es nicht etwas Sinn-Stiftendes?“ Maria Krieger hatte genug Power etwas Neues zu wagen. Und die Bereitschaftspflege schon lange als Plan B im Hinterkopf. „Der Gedanke schwang immer mit.“

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Auch die Pflegekinder verlieren beim Abschied eine Vertrauensperson. 

Aufgewachsen ist Maria Krieger in einer kinderreichen Familie mit fünf Geschwistern, was sie so bereichernd empfand, dass sie sich schon früh wünschte, selbst einmal viele Kinder zu haben. Zunächst vergeblich. Mit 40 Jahren bringt sie 2007 ihre Tochter Sarah zur Welt, 2010 nehmen sie und ihr Ehemann Tom, der schon zwei Kinder aus erster Ehe hat, Luise in Dauerpflege auf. In den Folgejahren keimt immer wieder der Gedanke auf, sich als FBB-Stelle zu bewerben, doch Maria Krieger ist noch nicht bereit, ihren Beruf aufzugeben. „Was man tun muss, wenn man ein Kind in Kurzzeitpflege aufnimmt, denn das ist ein Fulltime-Job“, sagt sie. Ein Fulltime-Job, der zwar ein Erziehungsgeld und den Unterhalt des Kindes vorsieht, aber nicht sozial-, nicht kranken-, nicht rentenversichert ist. Und einen anspruchsvollen Katalog an Aufgaben bereithält: Die Kinder wollen gepflegt, betreut, erzogen, stabilisiert und beschützt sein, rund um die Uhr. Ihre medizinische Versorgung soll sichergestellt, Entwicklungs- und Verhaltensdefizite erkannt, dokumentiert und therapiert werden. Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, der Herkunftsfamilie, den kidS-Mitarbeiterinnen und Vormündern muss gewährleistet sein. Die Rückführung in die Herkunftsfamilie, in eine Adoptions-, Dauerpflegefamilie oder in eine Wohngruppe begleitet werden.

Viele Kinder haben Missbrauch und Gewalt erlebt

Viele Pflegekinder sind so genannte „High Need“-Kids, Jungen und Mädchen, die Probleme damit haben, nahe Bindungen einzugehen. Weil sie erfahren haben, dass sie sich auf die Beziehungen zu anderen Menschen nicht verlassen können. Manche wurden schon im Mutterleib abgelehnt. „Solche Kinder fordern häufig permanente Zuwendung ein“, sagt Margit Brück. „Andere wiederum können Nähe kaum ertragen, reagieren selbst auf die kleinste Zurückweisung mit Angst, Aggressionen, nässen ein, haben Ess-, Schlaf- oder Entwicklungsstörungen.“ Nicht wenige Pflegekinder hätten Missbrauch und Gewalt erlebt, seien deshalb selbst aggressiv oder litten unter einer Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD), sind also in ihrer Intelligenz und Aufmerksamkeit beeinträchtigt, weil ihre Mutter in der Schwangerschaft Alkohol trank.

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Maria Krieger erzählt von Max, Kind Nummer fünf, der im Oktober 2019 als Säugling direkt aus dem Krankenhaus kam und elf Monate blieb. „Er muss schon während der Schwangerschaft einiges mitgemacht haben, denn er hat lange gebraucht, bis er bei uns angekommen ist“, sagt Maria Krieger. Und meint damit, dass der Junge, der vermutlich schon als Embryo häusliche Gewalt erfuhr, in seiner Entwicklung gestört war und motorische Unterstützung brauchte. „Er lächelte das erste Mal erst nach drei Monaten, an Heiligabend, das war eines der schönsten Weihnachtsgeschenke.“ Max war eine Ausnahme. Alle anderen Kinder hätten schnell Vertrauen gefunden. Maria Krieger kann sie wie aus dem Effeff der Reihe nach aufzählen, samt Alter, Vorgeschichte, Tag der Ankunft und Dauer des Aufenthalts.

Sechs Kinder in drei Jahren, sechs mal Abschied

Der FBB-Job setzt ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl, Belastbarkeit, Kooperationsbereitschaft voraus. Und Toleranz gegenüber anderen Lebenswelten. Paulas Mutter besucht ihr Kind regelmäßig in den Räumen von kidS. Wo ihr auch Maria Krieger begegnet. Die Besuchskontakte dienen unter anderem dazu, herauszufinden, wie die Eltern-Kind-Bindung ist oder sich entwickelt, ob die Eltern lernfähig, zuverlässig und kooperativ sind, kurz: ob ihre Ressourcen für eine Rückführung des Kindes ausreichen. „Was übrigens unser gesetzlich vorgeschriebenes, oberstes Ziel ist“, sagt Margit Brück.

Pflegekinder und Angebote in Köln

Pflegekinder in Köln

2021 hat das Kölner Jugendamt 181 Kinder bis vier Jahre in Obhut genommen, 2019 waren es 252, im Jahr 2020 240. Die Kinder werden von den Trägern „Kids“, der Erziehungshilfe Bergisch Gladbach und neuerdings auch dem Sozialdienst Katholischer Frauen (SkF) an FBB-Stellen vermittelt.

Von den 86 bei kidS im Jahr 2021 aufgenommenen Kindern war die Hälfte unter einem Jahr alt, 20 Prozent 1 bis 2 Jahre und 30 Prozent 2 bis 4 Jahre alt. Rund 60 Prozent der Kinder waren bis zu 6 Monate, und 15 Prozent bis zu einem Jahr in der FBB untergebracht, die übrigen Kinder einem und zwei Jahren. Mehr als die Hälfte kehrte zu den leiblichen Eltern zurück, ein Teil davon in eine Eltern-Kind-Einrichtung und rund 40 Prozent wurden in eine Vollzeitpflegefamilie vermittelt.

FBB-Angebote in Köln

In Köln gibt es derzeit 90 Familiäre Bereitschaftspflegeplätze (FBB) in 70 Familien, der Bedarf ist damit gerade gedeckt. Doch da die Zahl der Inobhutnahmen sehr schwankt und man davon ausgeht, dass in Pandemie-Zeiten weniger Kinder gemeldet werden, sucht das Jugendamt fortlaufend nach neuen Familien, die bereit sind, Kinder für kurze Zeit in Pflege zu nehmen.

Kontakt:

kidS: Kinder- und Jugendpädagogische Einrichtung der Stadt Köln, 0221/221-35209, astrid.linneweber@stadt-koeln.de

SkF: Sozialdienst katholischer Frauen: Fachdienst Familienanaloge Unterbringung, 0221/12695-0, pflegekinderdienst@skf-koeln.de

FBB-Angebote in der Region

Die „Mutabor Mensch & Entwicklung gGmbH“, ein freier Träger der Jugendhilfe mit Hauptsitz in Eitorf und Standorten in Overath und Kall, betreut derzeit 13 FBB-Stellen. In Kall gibt es dazu am 9. März, 18 Uhr, eine 2G+-Informationsveranstaltung (Weiherbenden 2). In der Eifel werden dringend Fachpflege- und Bereitschaftspflegefamilien gesucht. Am 15. März, 10-12 Uhr, gibt es zudem eine digitale Info-Veranstaltung.

Auch das „Bethanien“-Kinder- und Jugenddorf in Bergisch-Gladbach und die Praxis Erziehungshilfe Bergisch Gladbach suchen und betreuen Familien, die bereit sind, Kinder in Kurzzeitpflege aufzunehmen.

Kontakt:

Praxis Erziehungshilfe Bergisch Gladbach, 02202/8627199, info@praxiserziehungshilfe.de

Mutabor, 0152/02011308, Alexandra Fischer, Alexandra.Fischer@mutabor-mensch.de

„Bethanien“-Kinder- und Jugenddorf Bergisch Gladbach, Susanne Krakau, 02204/4809362, krakau@bethanien-kinderdoerfer.de

So viele Pflegekinder gibt es in Deutschland

Die deutschen Jugendämter haben im Jahr 2020 rund 45.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut genommen, zwei Drittel (67 Prozent) davon wegen einer dringenden Kindeswohlgefährdung, 17 Prozent aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland und weitere 17 Prozent auf Bitte der betroffenen Minderjährigen.

Ein Drittel (33 Prozent) dieser Jungen und Mädchen war jünger als 12 Jahre, jedes zehnte Kind (11 Prozent) jünger als 3 Jahre. Im Vergleich zu 2019 sind die Inobhutnahmen um 8 Prozent zurückgegangen. Experten vermuten, dass ein Teil der Kinderschutzfälle Corona-bedingt unentdeckt geblieben und das Dunkelfeld somit gewachsen sein könnte.

„Es ist mir wichtig, den Eltern keinen Vorwurf zu machen. Ich denke mir immer: »Die konnten nicht anders« - und nicht: »Die wollten nicht«“, sagt Maria Krieger. „Auch bei mir ist nicht immer alles geradeaus gelaufen im Leben, ich kann verstehen, dass man mal dort landen kann, wo man nie hinwollte.“ Zu oft hat sie in den drei Jahren als Pflegemutter erlebt, wie überfordert Eltern nach der Geburt eines Kindes sein können. „Nur bei einem Missbrauchsfall, da hätte ich Probleme mit dem Verständnis.“

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2017 war der Zeitpunkt gekommen, an dem sich Kriegers dazu entschieden, wechselnden Kindern ein Zuhause auf Zeit zu bieten. Immer wieder Bindungen zuzulassen und Abschied zu nehmen. „Das muss die ganze Familie entscheiden. Und mittragen. Unsere Kinder waren sieben und zehn und sie wollten es“, sagt Krieger. Sie würden von der Aufgabe profitieren, auch wenn sie oft zurückstecken, die Aufmerksamkeit der Eltern teilen und Rücksicht nehmen müssten, etwa wenn sie Freunde zu Besuch haben und das Baby aber Ruhe braucht. „Dennoch sagen beide immer wieder, dass sie später einmal Pflegeeltern werden möchten.“

Pflegeeltern müssen erstmal „die Hosen runterlassen“

Dafür müssen die FBB-Anwärterinnen und -Anwärter „die Hose runterlassen“, wie Maria Krieger sagt. Mindestens drei Monate dauert das Bewerbungsverfahren, das neben einem 1-a-Gesundheitsattest, einem lupenreinen Führungszeugnis, auch einen detaillierten Lebenslauf, Hausbesuche und viele Gespräche mit den KidS-Mitarbeiterinnen umfasst. „Wir wenden dabei das Vieraugenprinzip an, um herauszufinden: Wie funktioniert die Familie? Wie belastbar ist sie? Welche Krisen hat sie gemeistert?“, sagt Brück. Sobald nur eine Mitarbeiterin keinen guten Eindruck hat, wird die Familie nicht als FBB-Stelle zugelassen. Kommt es aber dazu, wird sie von KidS intensiv betreut und geschult: „Es gibt regelmäßig Fortbildungen zu verschiedenen Themen wie Auswirkungen traumatischer Erfahrungen und deren Bewältigung oder Bindungsentwicklung und -störungen“, sagt Brück.

Bleibt die Frage aller Fragen, die viele Pflegeeltern auf die Palme bringt, weil sie implizieren könnte, man sei ein gefühlloses Rabenelternteil: „Wie schaffst du das, immer wieder ein Kind abzugeben? Ich könnte das nicht!“ Maria Krieger aber hört da Bewunderung raus. „Ich sehe es als Kompliment, schließlich ist es eine Aufgabe, die Stärke erfordert und den Kindern etwas gibt, was sie ihr Leben lang in sich tragen“.

„Man darf sich nichts vormachen, es schmerzt sehr, wenn ein Kind uns verlässt“

Doch Stärke hin oder her: „Man darf sich nichts vormachen, es schmerzt sehr, wenn ein Kind uns verlässt. Und auch für das Kind selbst bedeutet es eine weitere Trennung von Menschen, von denen es existenziell abhängt. Das müssen wir den Kindern zumuten, und das ist das, was am meisten weh tut.“ Manchmal fragt sich Maria Krieger dann: „Wie viel Abschied hält mein Herz noch aus?“ In diesen Momenten tröstet sie ihr Mann Tom dann mit den Worten: „Wenn es nicht weh täte, hätten wir etwas falsch gemacht.“ Und Maria Krieger selbst zwingt sich dazu, nicht an den Abschied zu denken, sondern im Hier und Jetzt zu leben. Sich immer wieder bewusst zu machen: „Es sind nicht meine Kinder, meine Aufgabe ist es, sie eine Zeit lang aufzufangen.“ Und ihnen zu bieten, was sie für das Leben stark macht: Geborgenheit, Vertrauen und Liebe.

* Wir haben die Namen geändert, um die Kinder zu schützen und weil Pflegeeltern anonym bleiben müssen, damit die leiblichen Eltern, die ihr Kind meist gegen ihren Willen abgeben mussten, nicht wissen, wo es sich aufhält.