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Plötzlich erwachsenWas Kinder psychisch kranker Eltern erleben

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„Meine Mutter redet mit jemandem, der nicht da ist.“ Eine Kindheit mit einem psychisch kranken Elternteil lässt Kinder oft schneller erwachsen werden.

Eltern kümmern sich um ihre Kinder, nicht umgekehrt. Zumindest solange diese noch nicht volljährig sind. So ist es schon immer gewesen, so haben wir es verinnerlicht, so sieht die Natur es vor. Eigentlich. Manchmal macht das Leben dem „natürlichen Lauf der Dinge“ allerdings einen Strich durch die Rechnung. Wenn Eltern schwer krank werden zum Beispiel. Und Kinder von heute auf morgen erwachsen werden müssen.

Doppelte Belastung für alle

Es ist eine doppelte Belastung für alle: für die Eltern, die eigentlich für ihre Kinder stark sein wollen und sich für die umgekehrten, ja vermeintlich „unnatürlichen“ Verhältnisse schämen. Für die Kinder, die nicht nur unter der Krankheit ihrer Eltern leiden, sondern auch unter der Tabuisierung dieser „verkehrten“ Welt. Kinder kranker Eltern werden meistens dazu angehalten, nicht über die häusliche Situation zu sprechen, wie Maja Roedenbeck in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Kindheit im Schatten“ schreibt. Roedenbeck, die selbst mitansehen musste, wie ihre beiden Söhne unter der schweren Herzerkrankung ihres Vaters litten, hat dem Thema ein eigenes Buch gewidmet.

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Buchcover

„Unzählige Kinder kranker Eltern leben unter uns“, schreibt die Autorin, „es sollte uns alle etwas angehen“. Dabei erzählt sie nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern stellt verschiedene Schicksale vor und holt Rat bei Experten ein. Dabei wirke sich jede einzelne Krankengeschichte anders auf das individuelle Familiengefüge aus. „Körperliche Krankheit, psychische Krankheit, Sucht – das mache einen Riesenunterschied für die betroffenen Familien aus“, schreibt Rodenbeck. Die Initiative „Netz und Boden“, die sich an Kinder psychisch kranker Eltern richtet, unterscheide in ihren Hilfsangeboten sogar zwischen verschiedenen psychischen Erkrankungen, weil sich eine Depression auf das Leben der Kinder anders auswirke als etwa eine Borderline-Erkrankung.

„Meine Mutter redet mit jemanden, der nicht da ist“

Veras Mutter etwa litt an Schizophrenie. Die Krankheit kommt kurz nach der Geburt ihres kleinen Bruders, als Vera drei Jahre alt ist – und geht nicht mehr weg. „Ich sehe meine Mutter auf dem Sofa sitzen, während ich davor hocke, und sie redet mit jemandem, der nicht da ist.“ So erinnert sich Vera an ihre Kindheit. „Ich musste lernen, dass die Wahnvorstellungen meiner Mutter nicht real waren, und dass ich besser damit bedient war, auf meine eigene Wahrnehmung zu vertrauen. Das ist gerade für kleine Kinder sehr schwierig, sie wollen sich auf ihre Eltern verlassen“, hat die heute erwachsene Vera der Autorin erzählt.

„Ich kam mir vor wie die Mutter meiner Mutter“

Vera kümmert sich nicht nur um die Mutter, sondern auch um den kleinen Bruder und um den Haushalt der vierköpfigen Familie. Der Vater ist Unternehmensberater, arbeitet viel und ist ständig unterwegs, die Mutter lebt in ihrer eigenen Welt. „Ich kam mir vor wie die Mutter meiner Mutter. Total überfordert. Auch wenn ich aussah wie ein Kind, fühlte ich mich doch nicht wie eins.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite weiter, wie Betroffene ihre Kindheit mit einem kranken Elternteil erlebt haben.

Wenn Kinder sich eine Haushaltshilfe wünschen...

Vera hat für ein Kind sehr ungewöhnliche Wünsche: „eine Familientherapie, eine Haushaltshilfe“. Der Vater hält all das jedoch nicht für nötig, er verheimlicht die Krankheit seiner Frau, auch vor den eigenen Kindern, die lange nicht verstehen, was mit der Mutter los ist. Erst mit 14 Jahren erfährt Vera von ihrem Vater, dass ihre Mutter krank ist und dass es einen Namen für diese Krankheit gibt. Eine große Entlastung für Vera. „Vorher habe ich mich immer gefragt, ob sie mich nicht mochte, ob ihr Verhalten etwas mit mir zu tun hatte. Jetzt wusste ich, dass ich nichts dafür konnte und das war erleichternd.“

Eine Kindheit, die plötzlich aufhört: Kinder schwerkranker Eltern müssen schnell erwachsen werden. (Symbolbild)

Heute ist die 48-Jährige Rechtsanwältin, die vor Gericht oft dafür plädiert, psychisch kranken Eltern das Sorgerecht zu entziehen. Es gebe in unserem Grundgesetz „ein starkes Elternrecht“, so die 48-Jährige. „Aber wenn die Eltern Borderliner oder schizophren sind oder eine schwere Depression haben, können sie sich einfach nicht angemessen um ihre Kinder kümmern.“ Sie selbst wäre im Nachhinein betrachtet froh gewesen, wenn jemand anders für sie entschieden hätte, sie aus der Familie zu nehmen, denn: „Wenn ich als Kind gefragt worden wäre, ob ich von meiner Mutter weg will, hätte ich trotz aller Belastung natürlich Nein gesagt.“

„Ich wünsche mir keine andere Kindheit“

Doch nicht alle betroffenen Kinder sehen das so. Die 18-jährige Jeannette etwa, die bei ihrer alleinerziehenden depressiven Mutter aufgewachsen ist, sagt: „Ich bin froh, so wie es ist und wünsche mir keine andere Kindheit. Sonst wäre ich nicht der Mensch, der ich bin!“

Auch Sabine Wagenblass, die seit 15 Jahren zum Thema „Familien mit psychisch kranken Eltern“ forscht, gibt im Interview mit Roedenbeck zu bedenken, dass Kindheit für niemanden „ein krisenfreies Leben“ bedeute. „Jedes Kind erlebt Krisen mit seinen Eltern. Die einen lassen sich scheiden, die anderen werden arbeitslos“ , so die Professorin für Soziale Arbeit an der Universität Bremen.

Kindheit mit psychisch krankem Elternteil muss nicht im Chaos enden

Hinzu kommt: „Es ist ein Irrglaube, dass eine Kindheit mit einem psychisch kranken Elternteil immer im Chaos enden muss“, sagt Wagenblass. „Wir müssen zwischen leichten und schweren psychischen Störungen unterscheiden. Beispielsweise kann eine leichte depressive Episode der Mutter oder des Vaters von einer intakten Familie gut aufgefangen werden.“ Kinder seien außerdem dazu in der Lage, kreative Bewältungungsstrategien zu finden, indem sie sich etwa enge Bezugspersonen außerhalb der Familie suchen.

Wichtig sei es, Familien mit psychisch kranken Elternteilen frühzeitig zu unterstützen und nicht erst viel später das Jugendamt als Feuerwehr vorbeizuschicken, so Wagenblass. Zwar gebe es inzwischen viele Hilfsprojekte für Kinder psychisch kranker Eltern, nur würden die Betroffenen immer noch zu selten oder zu spät als solche erkannt. Denn sie fallen der Expertin zufolge meist nicht besonders auf. „Es sind gerade die sensiblen, verantwortungsvollen Lieblingsschüler, die nicht stören – parentifizierte Kinder, die sich wie junge Erwachsene benehmen und ihre eigene Entwicklung hinten anstellen.“ Hier müsste die Erwachsenen-Psychiatrie noch besser mit Kitas und Schulen zusammenarbeiten, so Wagenblass.

„Diese Kinder sind besonders gelassen“

Jeannette jedenfalls ist überzeugt davon, dass sie auch profitiert hat von ihrer Kindheit mit einer depressiven Mutter. „Es heißt immer, solche Kinder gehen unter, sie haben schlechtere Chancen, glücklich zu werden. Aber das stimmt nicht“, sagt die 18-Jährige. „Diese Kinder sind besonders gelassen. Sie sind nicht wie Menschen, die nie etwas Schlechtes erlebt haben und beim kleinsten Fingernagel, der abreißt, in Tränen versinken.“

Maja Roedenbeck: Kindheit im Schatten. Wenn Eltern krank sind und Kinder stark sein müssen. Ch. Links Verlag, 232 Seiten, 18 Euro.

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