AboAbonnieren

Rückblick und NeustartGemeinsame Erinnerungen stärken Beziehungen

Lesezeit 6 Minuten
ian-schneider-jk8rarn6lmw-unsplash

Teilen Sie Ihre schönen Erinnerungen mit uns?

  1. Zwischen den Jahren blicken viele Menschen gerne in die Vergangenheit
  2. Die Kölner Psychologin Damaris Sander erklärt unsere Nostalgie
  3. Flucht aus der Realität oder heilsame Kraftquelle?
  4. Schicken Sie uns Ihre Bilder und Anekdoten von Lieblingserinnerungen!

KölnFrau Sander, um Weihnachten herum und zwischen den Jahren sind wir oft hemmungslos nostalgisch, wenn uns der Festtagshorror nicht umtreibt. Ist das gut, oder der pure Eskapismus?

Damaris Sander: In dieser Zeit pflegen wir Rituale der Rückbesinnung. Sie begleiten den Jahreswechsel und geben Raum, um in sich zu gehen, sich zu sammeln. Zugleich schauen wir schon wieder auf die unmittelbare Gegenwart und in die Zukunft. Diese Rituale haben eine wichtige Funktion. Wenn wir ins Vergangene schauen, integrieren wir unsere Erfahrungen, bringen sie in Einklang mit dem, woher wir kommen.

Welche Wirkung hat das auf unsere Psyche?

Kohärenz und Integration sind da Stichworte. Wir lassen etwas zusammenwachsen, was uns ausmacht. Das Woher-wir-kommen und Was-wir-werden soll in eine schlüssige Gestalt gebracht werden. Die Bedeutung dieses Vorgangs spiegelt sich im Jahresverlauf und unserer Kultur; das hat sich aus sehr nachvollziehbaren Gründen ja auch so herausgebildet: Die dunklere Jahreszeit als Zeit des Rückzugs, des Innehaltens; Frühling und Sommer als Zeit des Aufbruchs und der Aktivität. Viele unserer Rituale sind religiös geprägt. Sie drücken das menschliche Bedürfnis aus, die seelische Bewegung zu verfestigen. Unabhängig davon, was man von religiösen Ritualen hält, haben sie die Funktion und bieten auch die Chance, seelische Bewegung als Gemeinschaft erleben zu können. Dass wir nicht nur individuell nach vorne gehen und zurückblicken, sondern dass wir uns darin auch verbunden fühlen.

Verliert man im nach vorne drängenden Alltag zu leicht die Verbundenheit zur eigenen Vergangenheit?

Unsere jetzige Kultur besetzt diese Werte sehr positiv, „machen“, „schaffen“, „Herausforderungen meistern“. Den Wert des Sich-begrenzens, ruhiger werden, nach innen schauen muss der Einzelne individuell erringen, und er wird oft auch erst errungen durch eigene Begrenzungserfahrungen. Plötzlich merkt man: Mit diesem „immer nach vorne“ komme ich nicht mehr weiter. Krankheit, Burn-out, Schmerzen lassen Menschen spüren, dass sie ihre Ausrichtung überdenken müssen.

Damaris Sander

Damaris Sander ist Psychoanalytikerin mit eigener Praxis in Köln. Ihre Behandlungsschwerpunkte sind Angststörungen, Depressionen und psychosomatische Beschwerden. Sie war lange Kolumnistin beim "Kölner Stadt-Anzeiger" für die Rubrik "In Sachen Liebe".

Die Pandemie ist jetzt für alle eine Extremerfahrung. Raten Sie da zum Blick in eine bessere Vergangenheit, um mit der Situation besser umgehen zu können? Nostalgie gegen Neurosen?

Das ist nichts Instrumentales – so kann man das nicht einsetzen. Aber eine Rückbesinnung kann eine wichtige Kraftquelle sein, durchaus in Momenten, in denen man sich von der Gegenwart sehr gefordert oder überfordert fühlt, sei es durch die Pandemie oder in anderen Lebenssituationen. Ich möchte das auch nicht Nostalgie nennen. Der Begriff Nostalgie hat für mich immer einen negativen Touch, weil da so viel Idealisierung drinsteckt. Braucht es das denn? Man kann doch offen bedenken: Was war da alles Gutes? Und auch in Bildern schwelgen, in einem Fotoalbum blättern, einen Videocall mit alten Freunden verabreden, sich gemeinsam erinnern und das genießen – gute Erinnerungen lebendig werden lassen und ruhig die Gegenwart ausblenden.

Beim Stichwort Idealisierung der Vergangenheit fallen mir Midlife-Crisis-Männer ein. Bei manche hat man den Eindruck, dass sie zur Nostalgie neigen, nach dem Motto, früher war ich so toll und wild!

Nach meiner Wahrnehmung ist das so. Bei den Jüngeren gibt es da womöglich gewisse Veränderungen; die jetzige Midlife-Generation aber ist noch von klassischen Geschlechterrollen geprägt: das Männliche wird stark definiert durch Ideale wie Autonomie, Autarkie, wild und ausschweifend sein. Das geht durchaus in eine sexuelle Richtung: Erobern, riskantes Verhalten, sich als potent und erfolgreich zu präsentieren. Und bei solch einem klassisch identifizierten Mann basiert die Stabilität seines Selbstwerts auch in der Lebensmitte auf diesem Bild. Die Krise entsteht dann durch das Erleben von Begrenzungen: Der Körper meldet sich gelegentlich, auch beim Sex klappt nicht mehr alles zuverlässig – das wirkt wie eine Bedrohung. Wenn Männer dann ihr altes Selbstbild wieder hervorholen, um sich zu stabilisieren, kann das schnell ins Lächerliche kippen.

eduard-trott--oRWR_cUI-w-unsplash

Was hilft?

Einem klassisch identifizierten Mann gelingt der Umgang mit der Lebensmitte, wenn er flexibler wird. Wenn er Bedürfnisse wie sich mal anzulehnen, Hilfe zu suchen und stärker in Beziehungen zu sein integrieren kann. Androgyner zu werden – das wäre eine gelungene Bewältigung dieser Phase.

Wie stellt sich das Problem für Frauen dar?

In der Psychologie spricht man vom Empty-nest-Syndrom. Das betrifft die klassisch weiblich identifizierte Frau, die sich gemäß traditioneller Rollendefinition überwiegend über die Mutterrolle definiert und nicht so sehr als eigenständige Person mit eigenen Interessen. Das bricht dann (stark - streichen) weg, wenn die Kinder flügge sind und diese Fürsorge so nicht mehr brauchen oder wollen.

Und gibt es da auch so eine schöne Lösung wie bei den neuen androgynen Männern?

Im Prinzip ja: Auch androgyner werden, die eigene Person stärker wahrnehmen, die nicht nur in Bezug auf andere ihren Wert hat. Leider machen Frauen oft die Erfahrung, dass sie im Bestreben um Selbstständigkeit von einem klassisch geprägten Mainstream nicht unterstützt werden. Aber sie dürfen sich nicht entmutigen lassen!

asher-legg-MiintsWweZI-unsplash

Sollen wir das nicht zum Anlass nehmen, darüber zu sprechen, was alte, vielleicht eingeschlafene Freundschaften bedeuten können?

Unbedingt. Wenn sich Gelegenheiten bieten, Kontakte wieder aufzunehmen, mit denen man Positives verbindet – und sei es auch nur für ein Treffen, eine Veranstaltung, eine Unternehmung -, kann das vielfach bereichernd wirken. Erstmal natürlich in der Gegenwart. Aber auch im Rückblick durch den Abgleich mit der aktuellen Lebenssituation: Die Zeit war etwas Gutes für mich, ein Baustein, der mich hat wachsen lassen, im persönlichen oder auch im beruflichen Kontext. Das erinnert an Aspekte der eigenen Person, die in einer bestimmten Lebenszeit wichtig waren.

Aber wirkt es nicht frustrierend, dass man dieses Gefühl der unbezweifelten Verbundenheit in frühen Freundschaften nicht mehr wirklich wiederherstellen kann – alte Bande, die zerrissen sind durch zeitliche und örtliche Distanz nach der Schul- oder Studienzeit?

Wenn ich mich danach sehne, teilt mir das auch etwas mit: Es kann ein Hinweis sein, dass ich das Bedürfnis spüre: Ah ja, diese Seite in mir bräuchte eine Stärkung. Etwa der Wunsch, Freunde aus der Teenagerzeit nochmal so zu erleben, wie man sie in Erinnerung hat. Da kann man überlegen: Was ist denn mit dem Teenager in mir? Brauche ich etwas von dieser Aufbruch-Stimmung, dieser Bereitschaft, Gewohntes infrage zu stellen, da, wo ich als Erwachsener gerade im Lebensweg stehe? Ist das möglicherweise dran? Zudem würde ich sagen: Auf jeden Fall kontaktieren. Selbst wenn die aktuelle Lebenssituation eine tatsächliche Reaktivierung dieser Beziehungen nicht zulässt, können diese Begegnungen den Kopf freimachen und ganz viel Kraft freisetzen.

Wie erleben Sie das in Ihrer Praxis – welche Rolle spielen schöne Erinnerungen?

Aktiv kann man das in der Therapie nicht ansprechen. Das würde Widerstand auslösen und die Patienten würden sich mit ihren Belastungen nicht ernstgenommen fühlen. Das Negative braucht den ersten großen Raum. Aber wenn Behandlungen fortschreiten und Misslungenes oder ein Mangel betrauert werden konnte, dann ist der Weg wieder frei. Dann kann darüber gesprochen und auch wieder gefühlt werden: Ja, da war auch Gutes. Gute Erinnerungen sind eine ganz wichtige Ressource für alle Menschen – das kann uns keiner mehr nehmen, darauf können wir immer zurückgreifen. Erstmal individuell, aber auch gemeinsame gute Erfahrungen stärken Beziehungen. Gute Erinnerungen sind ein wertvoller Schatz.