Köln – Mit ihrem Buch „Lotta Wundertüte“ hat Sandra Roth einen Bestseller gelandet, der viele Leser tief berührt hat. Nun hat die sympathische Kölnerin ein neues Buch geschrieben: „Lotta Schultüte – mit dem Rollstuhl ins Klassenzimmer“, in dem es um die Mühen geht, die mit der Schulwahl für ihre Tochter Lotta einhergehen. Wir haben mit der Autorin gesprochen.
Liebe Frau Roth, Ihr Buch „Lotta Wundertüte“ über das Leben mit eurer schwer mehrfach behinderten Tochter hat viele Menschen berührt und wurde zum Bestseller – was hat sich seitdem für Sie verändert?
Sandra Roth: Lotta ist jetzt schon 8 Jahre alt, ihr Bruder Ben 11. Manchmal erschrecke ich mich, wenn ich ihre Schuhe im Flur liegen sehe. Wie können die so groß sein? Meine Kinder waren doch eben noch Babys. Im ersten Buch ging es um Sorgen, die mich heute nur noch selten beschäftigen. Ich hadere nicht damit, dass meine Tochter nicht laufen, sprechen, kauen oder sehen kann, sie ist mein wunderbares, perfektes Mädchen. Dafür hadere ich jetzt öfter mit der Welt, in die ich sie gebracht habe. Sie macht es ihr so unnötig schwer, überall dabei zu sein.
Glauben Sie seit dem Erfolg des ersten Buches mehr als zuvor, dass sich Menschen für Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung interessieren?
Roth: Am Liebsten lese ich selbst Bücher, die alles gleichzeitig mit mir machen: mich zum Lachen bringen, auch mal zum Heulen und vor allem zum Nachdenken. Das erste Buch ist ja ein Sachbuch zu genau den Themen, die Sie nennen, aber für mich persönlich ist es auch eine Liebesgeschichte: zwischen einem Kind, das so ganz anders ist als erwartet und uns als Familie. Ich erzähle vom Annehmen und wir alle haben etwas, das wir annehmen müssen in unserem Leben. Sei es eine Behinderung oder eine Krankheit oder einfach, dass das eigene Kind so ganz anders ist als man selbst. Vielleicht haben sich da einige Menschen wiedergefunden. Und ich hoffe, es wird auch beim zweiten Buch so sein, da geht es dann ums Loslassen, ums Losschicken in die Welt.
Nun haben Sie Ihr zweites Buch geschrieben. Es heißt: „Lotta Schultüte – mit dem Rollstuhl ins Klassenzimmer" und Sie schreiben darin: „Ich weiß, Lotta ist bereit für die Welt. Ich weiß nur nicht, ob die Welt auch bereit ist für Lotta.“ Wie meinen Sie das genau?
Roth: Lotta will bei allem dabei sein. Wir waren mit ihr schon in New York und Paris, auf Skipisten, haben sie über Dünen geschleppt, sie auf Pferderücken gesetzt und versucht, die Mitarbeiter im Phantasialand zu überreden, sie auf meinem Schoß zumindest in die Bummelbahn zu lassen, in der auch Babys sitzen. Leider erfolglos, dabei wäre sie noch lieber in die Achterbahn gestiegen. Lotta ist ein richtiger Eroberer, aber leider bremst diese Welt sie ständig aus. Es fängt bei Treppen und kaputten Aufzügen an und hört wie im Phantasialand bei Vorschriften für die Evakuierung im Notfall längst nicht auf. Selbst so etwas Einfaches wie ein Konzertbesuch kann kompliziert werden.
Wenn ich mit meinem Sohn in die Stadtbücherei will oder ins Museum, muss ich nicht darüber nachdenken, wie wir dahin kommen, ob es da Treppen gibt und ob wir vielleicht Fluchtwege blockieren, wir gehen einfach. Mit meiner Tochter kann ich mir nie sicher sein, ob wir da ankommen, wo wir hin wollen. Oft geht alles gut, aber oft eben auch nicht. Das macht mich manchmal so müde, dass ich meine Tochter fast zuhause lassen möchte – ich schildere im Buch auch die Phase, in der ich mal nicht die Kraft hatte, überall zu kämpfen. Aber sie hat ein Recht darauf, dabei zu sein, und sie ist so neugierig auf alles, was die Welt zu bieten hat. Sollen die anderen doch starren, wenn ich sie im Schwimmbad ins Wasser trage. Dann lächele ich eben rüber und manchmal lächeln die Leute zurück. Sollen sie doch an der einen Saaltür sagen, in diesem Konzert seien Rollstühle aber verboten, dann frage ich eben an der nächsten Tür noch mal. Sie hat ein Recht darauf, zu sehen, wie schön die Welt ist – auch wenn die nicht immer bereit für sie ist.
Welche positiven aber auch negativen Erfahrungen haben Sie bei der Schulsuche für Lotta gemacht?
Roth: Lottas Bruder war von Anfang an überzeugt, dass sie eine gute Schülerin werden wird: „Du kannst so gut zuhören“. Das sehen nicht viele so, das war mir von Anfang an klar. Als wir im Gesundheitsamt zur Schuleingangsuntersuchung waren, ging es natürlich erst mal darum, was sie alles nicht kann: nicht laufen, nicht reden, nicht kauen, nicht sehen, nicht alleine sein, weil sie epileptische Anfälle hat. So viele Sätze mit „nicht“ und sie sagen nichts darüber aus, wer Lotta ist. In dem Gutachten standen dann all ihre Defizite. Unter Sozialverhalten stand aber: „Kontaktaufnahme: charmant.“ Sie kann vielleicht keinem die Hand geben, aber sie kann alle um den Finger wickeln. Jetzt haben wir das also sogar schriftlich vom Amt.
Was wir dann bei der Schulsuche erlebt haben, hat mir als Mutter in manchen Momenten das Herz gebrochen. Mein Mädchen, das so darum kämpfen musste, um auf dieser Welt zu bleiben, das so stolz ist, ein Vorschulkind zu sein – und kaum jemand möchte sie an seiner Schule haben. Selbst an Schulen, die damit werben, schon lange inklusiv zu arbeiten. Dabei wird sie während des ganzen Schultages von einer Fachkraft begleitet, die sie 1:1 betreut und von der auch die Mitschüler profitieren würden. In NRW hat man einen Rechtsanspruch auf den Platz an einer inklusiven Schule, aber möchte ich eine Schule, die mein Kind nicht will? Das Ausmaß an Ablehnung, das man erfährt, sobald man sagt: „Wir interessieren uns für einen Förderplatz“, fand ich schockierend. Eine Schule war zwar grundsätzlich offen für Lotta, was uns sehr gefreut hat, aber da gab es am Ende zu wenig Fördermöglichkeiten für sie. Bei der Recherche habe ich dann mit Lehrern gesprochen, die mir erklärt haben, was ihnen alles noch fehlt, damit sie sich einem Kind wie meinem gewachsen fühlen.
Für welche Schule haben Sie sich dann entschieden und warum?
Roth: Lotta geht mittlerweile auf eine Förderschule. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, es war kein gerader Weg und das Abwägen schildere ich in dem Buch. Am Ende haben wir uns für die Schule entschieden, die Lotta mit weitem Abstand die meisten Möglichkeiten bietet. Das heißt natürlich nicht, dass das für alle Kinder mit Behinderung gilt – ich denke nicht, dass man das verallgemeinern kann, dafür sind Kinder, Behinderungen und Schulen zu unterschiedlich.Lotta wird wohl nie selbstständig leben, aber wir wünschen ihr, dass sie selbstbestimmt leben kann. Dass sie anderen sagen kann „Ich möchte Marmelade aufs Brot“, „ich will nicht, dass Ina mich duscht, sondern Tanja“ oder „willst du mal ins Konzert mit mir gehen?“ An Lottas Schule arbeiten die Lehrer schon lange viel mit sogenannter „Unterstützter Kommunikation“, mit der wir in der Kita angefangen haben. Sie hat jetzt einen Sprachcomputer, so ähnlich wie ihn die meisten von dem Astrophysiker Stephen Hawkings kennen. Vielleicht wird Lotta keine Astrophysikerin werden – aber wer weiß das schon? Wenn ich Lottas Bruder Vokabeln abfrage, ist sie immer dabei. Wenn er eine falsche Antwort gibt, grinst sie sofort. Für ihn ist klar, wenn sie mal mit dem Computer sprechen kann, wird sie Latein können.
Wie geht es Lotta heute mit der Schule? Was sagt ihr zwei Jahre älterer Bruder? Und wie geht es Ihnen, den Eltern damit?
Roth: Sie ist ein kleiner Streber, wie ihr Bruder sagt. Sie freut sich morgens so sehr auf die Schule, dass sie uns alle damit ansteckt. Ich freue mich, dass Lotta so ein glückliches Schulkind ist, sie hat uns alle mit ihren Fortschritten überrascht – und doch finde ich es schade, dass sie getrennt von ihren alten Kitafreunden zur Schule geht. Die Förderschule ist eine kleine Welt für sich und ich finde das aus gesellschaftlicher Perspektive betrachtet problematisch. So lange jeder in seiner Nische lebt, werden mich weiter Kinder fragen, ob Lotta ansteckend sei, und Erwachsene, ob man da nichts machen konnte, in der Schwangerschaft. Wenn wir eine inklusive Gesellschaft wollen, dann brauchen wir auch eine funktionierende Inklusion in der Schule.
Was muss sich gesellschaftlich noch verändern, damit Inklusion wirklich gelingen kann?
Roth: Damit unsere Gesellschaft inklusiver wird, müssen wir uns begegnen können: in der Schule, im Theater, im Büro. Das geht aber nur, wenn wir dafür die Voraussetzungen schaffen, dass alle dabei sein können, sei es mit Rampen oder Infomaterialien in leichter Sprache, die alle verstehen können. Schulen brauchen für eine erfolgreiche Inklusion zum Beispiel größere und barrierefreie Klassenzimmer, kleinere Klassen, Doppelbesetzung mit Sonder- und Regelpädagogen oder Weiterbildungen für die Lehrer, was allen Kindern zugutekommen würde. Und wir brauchen den Mut, einander begegnen zu wollen. Die Neugier aufeinander und die Bereitschaft, die Welt auch mal aus den Augen des anderen zu betrachten. So sehr es mich manchmal auch nervt, ich hoffe, es werden noch ganz viele Eltern in der Eisdiele aufstehen, wenn ihre Kinder fragen: „Was hat das Mädchen?“ Ich hoffe, sie sagen: „Wollen wir mal hingehen und das Mädchen fragen?“