Bildungsexpertin„Das Corona-Aufholprogramm kommt nicht an der richtigen Stelle an“
Im Buch „Krisenkinder“ kritisiert Silke Fokken das Corona-Aufholprogramm des Bundes für Schülerinnen und Schüler. Die Bildungsjournalistin hat mit Wissenschaftlern, Lehrern, Sozialarbeitern und natürlich mit vielen Kindern und Jugendlichen über das Aufwachsen in der Pandemie gesprochen. Ihr Fazit: Das System Schule muss sich ändern, damit Bildung in Deutschland nicht mehr „Glückssache“ ist.
Eine Studie der Uni Dortmund hat erhebliche Lesedefizite bei Viertklässlern festgestellt. Den Kindern fehlt im Frühjahr 2021 im Durchschnitt ein halbes Schuljahr – nach nur einem Jahr Pandemie. Haben Sie die Ergebnisse überrascht?
Silke Fokken: Nein. Bisher wurde von vielen Seiten, unter anderem aus der Bildungsforschung, vor genau solchen Entwicklungen gewarnt. Dies ist nun eine der ersten größeren Studien aus der Pandemiezeit, die den Leistungsrückgang misst. Was ich an den Ergebnissen besonders bedenklich finde: Die Gruppe derjenigen, die Probleme beim Lesen und Texte verstehen hat, ist größer geworden. Ihr Anteil liegt bei 28 Prozent. Das ist ein Alarmzeichen, zumal Lesen eine Schlüsselkompetenz ist. Eine andere Studie aus Hamburg hat gezeigt, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien überproportional von Lernrückständen betroffen sind. Hier besteht nun dringend Handlungsbedarf.
Warum gibt es bis jetzt nur so wenige Untersuchungen der tatsächlichen Lernrückstände nach den Schulschließungen?
Von mehreren Kultusministern hieß es, man wolle den Schulen neben den Belastungen durch die Pandemie nicht noch zusätzlich Mühe durch aufwendige Leistungstests aufbürden. Einerseits verständlich, andererseits fehlt damit nun eine bundesweite Vergleichsstudie, die – je nach Ergebnis – noch mal anders politischen Druck erzeugen würde, an den Schulen jetzt nicht weitgehend zur Tagesordnung überzugehen, sondern die Folgen der Pandemie stärker zu berücksichtigen. Der Bund hat zwar ein Corona-Aufholprogramm für Bildung und psychosoziale Folgen der Pandemie für zwei Milliarden Euro aufgelegt, das die Länder teils noch aufgestockt haben. Aber auf das einzelne Kind heruntergerechnet, ist das trotzdem wenig Geld, und an den Strukturen wird auch kaum gerüttelt. Zum Vergleich: Die Niederlande – ein kleineres Land mit weniger Schülern – haben ein Neun-Milliarden-Euro-Programm gestartet.
Kinder aus sozial benachteiligten Familien hatten in der Pandemie ein größeres Risiko, beim Lernen „abgehängt“ zu werden. Aufholmaßnahmen kommen bei ihnen wenig an, schreiben Sie. Warum?
Ich beziehe mich auf eine Studie des Ifo-Instituts. Den Ergebnissen zufolge haben Akademiker-Kinder im Schnitt deutlich öfter an Aufholprogrammen teilgenommen als Nicht-Akademiker-Kinder, sie bekamen auch öfter kostenlose oder kostenpflichtige Nachhilfe, zumindest im ersten Pandemiejahr. Gründe sind nicht angegeben. Es kann daran liegen, dass Schulen in gutbürgerlichen Stadtteilen mit hohem Akademikeranteil oft personell und insgesamt von den Ressourcen her besser aufgestellt sind und deshalb öfter Förderangebote unterbreiten können. Akademiker-Eltern drängen vielleicht auch eher darauf, dass ihre Kinder Nachhilfe annehmen, und sie können diese eher privat finanzieren.
Ich habe bei meinen Recherchen insgesamt gemerkt: Privilegierte Eltern, und das müssen nicht Akademiker sein, haben es oft leichter, ihren Kindern beim „Aufholen“ zu helfen. Ein Beispiel: Die Jüngeren sind coronabedingt oft beim Schwimmen lernen ausgebremst worden, weil die Bäder lange geschlossen waren. Einige Eltern gehen nun umso öfter mit ihnen ins Schwimmbad. Ich habe andere Familien getroffen, die sich das aus finanziellen Gründen schlicht nicht leisten können.
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Wie wäre diesen Kindern besser geholfen?
Deutschland müsste seine Infrastruktur insgesamt so ausbauen, dass Kinder unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund viel besser aufgefangen und gefördert werden. Dem System Schule kommt dabei besondere Bedeutung zu, weil es alle erreicht. Hier müsste viel mehr Zeit und Raum sein, um individuell auf Kinder eingehen zu können. Stattdessen leiden viele Schulen unter akuter Personalnot. Lehrkräfte beklagen, sie könnten Einzelnen kaum gerecht werden. Die Corona-Aufholprogramme zielen zudem stark darauf, über Honorarkräfte Nachhilfe am Nachmittag oder in den Ferien anzubieten. Aus den Schulen höre ich jedoch oft, die Aufnahmekapazitäten von Kindern seien nun mal begrenzt. Förderung am Vormittag mit vertrauten Personen in Kleingruppen wäre viel sinnvoller. Aber das geben die Strukturen und Ressourcen derzeit kaum her.
Sie haben für ihr Buch mit Kindern, Jugendlichen, Sozialarbeitern, Lehrern und Wissenschaftlern über Kindheit und Jugend in der Pandemie gesprochen. Welche Schilderung war am eindrücklichsten? Mich haben viele Gespräche sehr bewegt. An einen 13-jährigen Jungen, der mit etwa vier Jahren mit seinen Eltern aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet ist, habe ich noch oft gedacht. Im Buch habe ich ihn Navid genannt. Er war mit dem Distanzunterricht und den vielen Arbeitsblättern, die er bekam, überfordert. Seine Eltern konnten nicht helfen. Navid hatte vor der Pandemie schon Probleme beim Lernen und ist in der Krise noch mal massiv ausgebremst worden. An seiner Geschichte hat sich für mich deutlich gezeigt, wie sehr der Schulerfolg bei uns – in der Pandemie nochmal mehr als sonst – vom Elternhaus oder Engagement einzelner Lehrkräfte abhängt. Bildung wird zur Glückssache. Mich hat auch der Besuch bei einem Mädchen mit Behinderung sehr beeindruckt, dessen Förderschule etwa länger geschlossen war als die Grundschule seines nicht-behinderten Bruders. Das Mädchen hat mir erzählt, wie einsam es sich gefühlt hat und wie gerne es lernt. Im Gespräch mit den Eltern wurde deutlich, dass sie bis heute, oft aufgrund bürokratischer Hürden, immer wieder stark um die Rechte ihres Kindes, auf Teilhabe, auf Bildung, ringen müssen.
Im Buch stören Sie sich an dem viel gesagten Satz „Kinder sind unsere Zukunft“. Was ist daran falsch?
Mich stört, dass sich darin sehr eigennützige Gedanken der Erwachsenengeneration verbergen: Wir werden älter und sind irgendwann auf Unterstützung der Jüngeren angewiesen. Sehr stark verkürzt könnte man sagen: Es geht uns um unsere Rente.
Dabei tragen wir als Gesellschaft jetzt eine Verantwortung für das Wohlergehen von Kindern. Die müssen wir wahrnehmen, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten, und zwar für alle Kinder, nicht nur für unsere eigenen.
Silke Fokken: Krisenkinder. Wie die Pandemie Kinder und Jugendliche verändert hat und was sie jetzt brauchen. DVA, 416 Seiten, 20 Euro