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Schwester erzähltWie ich als Kind den Tod meines kleinen Bruders erlebt habe

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Natalia als Kind mit ihrer Schwester und Bruder Raphael.

Köln – Wie ist es, wenn man als Kind einen unglaublichen Verlust miterleben muss? Was macht es mit Geschwistern, wenn der eigene Bruder stirbt und die ganze bekannte Welt ins Wanken gerät?

Natalia hat das selbst erlebt. Sie erzählt, wie der Tod ihres Bruders auch 30 Jahre danach noch ihr Leben beeinflusst.

„Das Mädchen steht vor dem Kleiderschrank und weiß nicht, was es anziehen soll. Ein warmer Sommertag in Deutschland vor vielen Jahren. Es entscheidet sich für eine graue Hose und ein T-Shirt, über das es eine dunkelblaue Trachtenjacke zieht. Die liebt sie besonders. Sie ist eine Erinnerung an einen schönen Familienurlaub in Tirol im vergangenen Jahr. Auf die Jacke sind rosa Blumen gestickt. Das Mädchen überlegt noch, ob es sie vielleicht abtrennen sollte, doch sie bringt es nicht übers Herz.

Sie weiß genau, dass alle schwarz angezogen sein werden. Und doch hat sich niemand Gedanken darüber gemacht, was die beiden Schwestern anziehen werden. Dabei ist doch gleich die Beerdigung.

Gestern wäre der dritte Geburtstag des Bruders gewesen. Das Mädchen ist neun Jahre alt. Das Mädchen bin ich.

Wenn ein Kind in der Familie stirbt, ist das für mich noch immer das Schlimmste und Unvorstellbarste, was einem im Leben zustoßen kann. Erst, seitdem ich selbst Mutter bin erahne ich, was meine Eltern durchgemacht haben. Erst seitdem ich Mutter bin, kann ich nachvollziehen, dass der Tod eines Kindes für manche Eltern das Ende der Beziehung, das Ende der Familie, vielleicht sogar das Ende von sich selbst bedeuten kann.

Mein Bruder starb überraschend während einer Urlaubsreise nach Frankreich. Was meine Eltern immer und immer wieder gesagt haben: „Wir wären doch niemals mit einem kranken Kind verreist.“ Mein Bruder war gesund und wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich ihn und mich im Meer spielen. Eine Landzunge hatte einen kleinen See gebildet und ich zog ihn in einem Schlauchboot. Und er kreischte vor Freude.

„Ich habe mich schuldig gefühlt, dass nicht ich an seiner Stelle gestorben bin“

Gleich am zweiten Tag bekam er starke Bauchschmerzen, die nicht aufhörten, so dass meine Eltern schnell einen Kinderarzt aufsuchten. Ich erinnere mich an die Hitze im Wartezimmer. Ich erinnere mich auch, wie sehr mich sein Weinen und Jammern genervt hat.

Es hat mich Jahre gekostet, um mich von diversen Schuldgefühlen zu befreien. Und ich glaube, dass das das Schicksal der Geschwisterkinder ist. Du hast keine Schuld, aber du fühlst sie. Es gab viele Momente, in denen ich mich schuldig fühlte.

Zum Beispiel dafür, dass ich das rote Rosenherz am Fuße des Sarges so schön fand. Dass ich so gerne die Hand meines Vaters gehalten hätte, er aber den Sarg seines Sohnes trug. Dass ich die Lieder blöd fand. Dass wir nach der Beerdigung gefragt haben, ob wir „Heidi“ im Fernsehen schauen dürften, weil der Tag so lang war. Ich habe mich schuldig gefühlt, dass ich nicht immer weinen konnte. Dass ich nicht immer an ihn dachte. Dass ich schlecht in der Schule wurde. Dass nicht ich an seiner Stelle gestorben bin.

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Mein Bruder wurde schnell in die Uni-Kinderklinik nach Bordeaux verlegt, wo er innerhalb einer Woche starb. Eine Sepsis hat ihm das Leben gekostet. Es war medizinisch nichts zu machen und bis heute ist unklar, woran er eigentlich erkrankte.

„Ich erinnere mich daran, wie wir den Sarg ausgesucht haben“

Ich erinnere mich daran, dass wir mit einem leeren Kindersitz nach Hause gefahren sind. Eine endlose Fahrt. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir eine Pause gemacht haben. Ob ich mich getraut hätte, nach einer Pause zu fragen.

Ich erinnere mich daran, wie wir den Sarg ausgesucht haben. Uns Mädchen war es wichtig, dass die Kissen schön weich und kuschelig waren. Wir haben sein Lieblingsauto, sein Kuscheltier und sein Schlafsäckchen rausgesucht. Das, was bei ihm bleiben sollte. Ich erinnere mich an meinen Bruder, der so friedlich da lag. Schlafend. Und doch hob sich die Bauchdecke nicht.

Ich erinnere mich an meinen Vater, der immer und immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Und dass ich mir selbst jahrelang das Weinen verboten hatte - aus der Sorge, dass der Schmerz nachlässt und die Vergessenheit siegen könnte.

Ich kann mich dagegen nicht daran erinnern, dass sich ein Erwachsener überhaupt mal nach uns Kindern erkundigt hat. Und damit meine ich nicht: meine Eltern. Sie haben das gegeben, was sie geben konnten. In ihrem Schmerz.

„Wenn ein Geschwisterkind stirbt, dann ist klar: Hier geht es nicht um dich“

Heute gibt es wunderbare Begleitungen für Geschwisterkinder. Damals gab es das so noch nicht. Und auch, wenn meine Schwester und ich doch da waren, teilten wir das Erlebte nicht. Sprachen wir niemals davon. Nicht über unsere Traurigkeit. Über unsere Ohnmacht. Über unsere Angst. Über unsere Überforderung. Ich habe bis heut nicht verstanden warum. Es war wie ein stilles Abkommen. Die Trauer der Eltern, die Tränen, die Stille waren schon kaum zu ertragen. Die eigene Trauer auch. Vielleicht spürten wir, dass wir keine Kraft mehr hatten, auch noch uns gegenseitig eine Stütze zu sein.

Wenn ein Geschwisterkind stirbt, dann ist es ganz klar: „Hier geht es nicht um dich.“ Das muss gar nicht ausgesprochen werden. Das ist ein allgegenwärtiges Gefühl. Eines, das für sehr lange Zeit bleibt. Für mich war es das Gefühl, was es mir mit am schwersten gemacht hat, gut zu mir zu sein. Es ging einfach nicht um mich. Ich habe das als Kind gespürt, aber erst Mitte Zwanzig hat es mich so richtig von den Füßen geholt. Ich kam nicht mit dem Leben klar. Ich konnte mich nicht abgrenzen. Ich konnte mich nicht spüren. Ich war stark und überspielte alles mit Leichtigkeit und Fröhlichkeit.

„Niemand hat mir geholfen - aus Angst, etwas Falsches zu sagen“

Bis ich es wagte, das „schwarze Meer der Traurigkeit“ in mir anzublicken und darüber zu weinen, vergingen Jahre. Zu groß war die Angst, dem Schmerz ins Gesicht zu sehen. Zu groß die Angst, dass ich keinerlei Handlungsmuster hatte, mit meinem Schmerz umzugehen. Und sie war sehr berechtigt. Ich hatte es als Kind nicht gelernt.

Niemand hat mir geholfen. Niemand, von den Erwachsenen, der den Mut hatte, hinzusehen. Sicherlich nicht aus Gedankenlosigkeit. Sondern auch aus Angst. Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, zu machen, zu tun.

Vor einigen Jahren bat ich meine Eltern, dass ich die Trauerkarten einmal lesen dürfte. Es waren sehr viele. Und in nur einer einzigen fand ich eine Anrede, die uns beiden Mädchen bedachte. In nur einer einzigen.

„Ich bin dankbar, dass mein Bruder Raphael ein Teil von mir ist“

In diesem Jahr bin ich 40 geworden. Ich bin so alt wie meine Mutter, als mein Bruder starb. Meine älteste Tochter ist so alt, wie ich damals war. Es ist 30 Jahre her. Und ich bin dankbar, dass mein Bruder Raphael ein Teil von mir ist. Ich bin dankbar, dass ich heute die bin, die ich bin. Es war ein steiniger Weg. Manchmal muss ich noch immer sehr darüber weinen. Darüber, was das mit mir, mit uns gemacht hat. Aber es ist nicht mehr existentiell. Ich bin dankbar dafür, dass das Meer in mir heute blau ist. Ich betrachte das nicht als Selbstverständlichkeit.

Der Text erschien ursprünglich auf dem Blog Stadt Land Mama.