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Missbrauch durch Frauen„62 Prozent der Betroffenen nannten die Mutter als Täterin“

Lesezeit 7 Minuten
Die Silhouette einer Frau, die ein Kind an der Hand hält

Dass auch Frauen Missbrauchstäterinnen sein können, ist für viele unvorstellbar.

Bei Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch ist in der Wahrnehmung immer ein Mann der Täter. Tatsächlich aber gibt es auch Frauen, die sexuelle Verbrechen an Kindern verüben. Warum hört man darüber nichts? Und wer sind die typischen Täterinnen? Ein Gespräch mit der Psychologin Safiye Tozdan vom Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am UKE in Hamburg.

Warum kommt uns beim Thema Kindesmissbrauch eine weibliche Täterin nicht in den Sinn?

Safiye Tozdan: In der Öffentlichkeit und in der medialen Darstellung hört man immer nur von Frauen, die betroffen sind von sexueller Gewalt. Sie werden nicht als Täterinnen wahrgenommen. Höchstens vielleicht, weil sie durch einen männlichen Partner dazu gezwungen werden. Es übersteigt schlichtweg die Vorstellungskraft der Menschen, dass Frauen sexualisierte Gewalt gegen Kinder ausüben können.

Wieso ist es so unvorstellbar?

Dr. Safiye Tozdan im Porträtbild

Psychologin Dr. Safiye Tozdan forscht am UKE in Hamburg zum Thema Kindesmissbrauch durch Frauen.

Sicher hat es damit zu tun, dass es die Frauen sind, die uns als Kinder beschützen. Es ist einfach schmerzhaft, dass nicht einmal die Frauen oder Mütter in unserer Gesellschaft die Kinder in jedem Fall schützen.

Kommen viele Missbrauchstaten deshalb gar nicht erst ans Licht?

Genau. Täterinnen sind scheinbar ein Tabuthema, über das sich keiner traut zu sprechen. So erkennen womöglich auch betroffene Kinder und Jugendliche meistens selbst nicht, dass sie missbraucht werden – weil eine Frau so etwas in ihrer Vorstellung einfach nicht macht. Und wenn es Täterinnen gibt, werden deren Taten häufig verharmlost oder damit entschuldigt, dass die Frau selbst missbraucht wurde oder psychische Probleme hat. Das ist natürlich hochproblematisch. Denn der Umgang mit Täterinnen in der Öffentlichkeit könnte bei Betroffenen eher die Angst schüren, nicht ernstgenommen zu werden. Dann sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie es bei der Polizei melden. Die Dunkelziffer bei Missbrauchstaten ist generell sehr hoch, bei Täterinnen ist sie aber noch viel höher – nach allem, was wir bisher wissen.

Welche Zahlen sind denn ermittelt?

In der offiziellen Kriminalstatistik in Deutschland liegt der Anteil der Täterinnen von sexuellem Kindesmissbrauch bei ungefähr ein bis zwei Prozent. Schauen wir uns aber Studien an, bei denen Betroffene befragt wurden, liegt die Zahl bei bis zu 20 Prozent. Bei männlichen Opfern ist sie sogar noch höher, weil Jungen häufiger von Missbrauch durch Frauen betroffen sind. Insgesamt muss man sagen, ist das Feld aber noch viel zu wenig erforscht.

Werden viele Täterinnen also nie zur Rechenschaft gezogen?

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Die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Sexueller Kindesmissbrauch durch Frauen“ (2021) des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) – beauftragt von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung Sexuellen Kindesmissbrauchs.

Frauen werden höchstens noch als Tatverdächtige angeklagt, aber dann nur selten verurteilt. Das deutet daraufhin, dass die Justiz und die Strafverfolgung Kindesmissbrauch durch Frauen nicht so ernst nimmt. Es gibt sogar Studien, bei denen Richtern und Richterinnen und Polizisten und Polizistinnen Missbrauchsfälle von Männern und Frauen vorgelegt wurden: Die Taten der Frauen wurden insgesamt als harmloser wahrgenommen und mit geringeren Strafen belegt. Ich befürchte, es wird noch lange dauern, bis das gleichberechtigt behandelt wird.

Wer sind die Täterinnen und wie gehen sie vor?

Grundsätzlich werden Kinder ja meist nicht durch Fremde missbraucht, sondern durch Menschen im Umfeld, die ihre Vertrauensbeziehung zum Kind manipulativ ausnutzen. Die Forschung zeigt, dass auch Täterinnen in den allermeisten Fällen aus dem täglichen Umfeld der Kinder stammen. Es sind Mütter, Omas, Tanten, Schwestern, Babysitterinnen, Erzieherinnen, Nachbarinnen oder Trainerinnen.

Auch Mütter?

Ja, auch Mütter können Täterinnen werden. Eine bittere Vorstellung. In unserer Befragung haben wir 212 Betroffene befragt, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt durch eine Frau erlebt haben. Davon haben 62 Prozent die eigene Mutter als Täterin genannt. Das ist eine sehr hohe Zahl, die nicht in allen vergleichbaren Untersuchungen so hoch ausgefallen ist. Aber es gibt immer einen nicht unerheblichen Anteil an Müttern, die zu Täterinnen werden.

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Welche Motive stecken hinter den Missbrauchstaten?

Frauen missbrauchen Kinder aus unterschiedlichen Motiven. Es gibt pädophile Frauen, die ein sexuelles Interesse an Kindern haben – ein Thema, das übrigens noch weniger erforscht ist. Und hier muss gesagt werden, dass nicht alle Menschen mit pädophiler Neigung Kinder missbrauchen. Es gibt sowohl Männer als auch Frauen mit sexuellem Interesse an Kindern, die sich klar gegen sexuelle Handlungen an Kindern aussprechen, weil sie wissen, dass das falsch wäre.

Manche Täterinnen haben wiederum ein Bedürfnis nach Nähe und Intimität und sind nicht in der Lage, entsprechende Beziehungen zu Erwachsenen zu führen, sie stillen diese Bedürfnisse bei einem Kind. Andere Frauen haben auch sadistische Motive. In einigen Fällen können sich die Motive auch vermischen.

Hier finden Sie Hilfe

N.I.N.A. e.V., Hilfetelefon und Online-Beratung bei sexuellem Missbrauch für Betroffene, Fachkräfte, Freunde und Angehörige.www.nina-info.de

Die Telefonberatung ist anonym und kostenlos:0800/22 55 530 (Montag, Mittwoch und Freitag:9 bis 14 Uhr, Dienstag und Donnerstag: 15 bis 20 Uhr)Online-Beratung: www.hilfe-telefon-missbrauch.online

Zartbitter e.V., Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und JungenSachsenring 2-450677 Köln0221/31 20 55www.zartbitter.de

Kinderschutzbund Köln betreibt die Familienberatungsstelle und hilft auch telefonisch weiter.

Bonner Str. 15150968 Köln0221/57 77 70kinderschutzbund-koeln.de

Das Hilfeportal Missbrauch hilft bei der Suche nach einer Fachberatungsstelle in der Nähe:www.hilfeportal-missbrauch.de

Weitere hilfreiche Adressen:www.kein-raum-fuer-missbrauch.dewww.schule-gegen-sexuelle-gewalt.dewww.beauftragter-missbrauch.de

Gibt es Täterinnen-Typen?

In den Medien prominent ist zum Beispiel der „Lehrerin-Liebhaberin-Typ“. Das sind Frauen, die in sozialen Bereichen tätig sind und im Zuge ihrer Tätigkeit ein Kind sexuell missbrauchen. Oftmals entwickelt die Frau romantische Gefühle für das Kind. Auch hier wird durch die Namensgebung „Lehrerin-Liebhaberin“ bereits wieder verharmlost – es klingt so, als könne das Kind von einer erwachsenen Liebhaberin lernen. Dabei ist es eine Person, die ihre Autorität ausnutzt, um ein Kind zu sexuellen Handlungen zu treiben.

Im Rahmen unseres Forschungsprojekts mit Betroffenen haben wir eigene Täterinnen-Typen entwickelt, wie etwa die sadistische Täterin, die ein großes Ausmaß an Gewalt zeigt und durch die Hilflosigkeit und den Schmerz des Kindes sexuell erregt wird oder die vermittelnde Täterin, die Kinder dritten Personen zum Missbrauch zuführt. Diese Ergebnisse sind aber nur Ausschnitte und nicht generalisierbar.

Ist Missbrauch durch Frauen anders als der durch Männer?

Es heißt oft, Missbrauch durch Frauen könne ja nicht so schlimm sein, weil die schließlich keinen Penis hätten. Doch nach allem was wir bisher wissen, sind Frauen genauso gewalttätig wie Männer und üben eine Bandbreite an sexuellen Handlungen an Kindern aus. Das reicht von sexuellen Berührungen über Penetration mit Gegenständen bis hin zu körperlich gewalttätigem Missbrauch. Es gibt keinen Anlass zu glauben, dass Missbrauch durch Frauen harmloser oder weniger schädigend für die Kinder ist. Egal ob Täter oder Täterin, die Betroffenen leiden gleichermaßen.

Welche Folgen haben solche Taten für die Kinder?

Betroffene haben oft bis ins Erwachsenenalter mit psychischen Erkrankungen, mit Depressionen, Angst- und Essstörungen oder eine Posttraumatische Belastungsstörung zu kämpfen. Und sie haben oft Schwierigkeiten, Beziehungen und ein zufriedenstellendes Sexualleben zu führen.

Bewegen sich im Kontext großer Missbrauchsnetzwerke auch Täterinnen?

Ja. Frauen haben innerhalb dieser Netzwerke zum Beispiel die Aufgabe, neue Kinder und Jugendliche zu rekrutieren und auf den Missbrauch vorzubereiten. Sie wirken vertrauenswürdiger und schaffen es leichter als Männer, ein Kind davon zu überzeugen, mitzugehen. Manchmal helfen Frauen so auch bei der Produktion kinderpornografischer Inhalte. Und es gibt auch Frauen, die selbst Kinderpornografie konsumieren. Ich gehe davon aus, dass sie auch an der Verbreitung der Inhalte beteiligt sind, da man in diesen Netzwerken grundsätzlich nur an Material kommt, wenn man sich selbst strafbar macht.

Was kann getan werden, um Missbrauch durch Frauen vorzubeugen?

Es ist wichtig, Kinder und Jugendliche, das Personal im Gesundheitswesen und im pädagogischen Kontext zu informieren und zu sensibilisieren, dass es Missbrauch durch Frauen geben kann. Das würde schon viel ausmachen. Zum anderen sollten Therapieangebote geschaffen werden, speziell für Frauen, die ein sexuelles Interesse an Kindern haben.

Wie nahe gehen Ihnen persönlich die Schicksale, die Sie erforschen?

Ich beschäftige mich seit zehn Jahren mit dem Thema Kindesmissbrauch. Mit der Zeit findet man einen besseren Umgang damit, aber es geht natürlich nicht spurlos an mir vorbei. Manche Dinge, die ich lese oder höre, beschäftigen mich auch noch, wenn ich abends im Bett liege. Das motiviert mich aber nur noch mehr, einen Beitrag zu leisten, diese Fälle zu verhindern.