„Sorry, können wir verschieben?“ Die Unmöglichkeit, sich eindeutig festzulegen, ist ein Massenphänomen unserer Zeit. Das Jein die häufigste Antwort, beruflich wie sozial. Was das mit unseren Beziehungen macht.
„Jein“ als MassenphänomenWarum immer mehr Menschen unverbindlich sind
Der Babysitter ist gefunden und gut gebrieft für den Abend. Die Mutter radelt los zur Freundin, endlich mal wieder, und erhält auf dem Weg per Whatsapp von ihr ein lapidares: „Sorry, kann doch nicht. Die Arbeit …“ Die erste Absage dieser Art wurde vor einiger Zeit noch mit einem Seufzer quittiert.
Das war allerdings der dritte Versuch, sich zu verabreden. Einen vierten gab es nicht mehr. „Blöde Kuh“, hätte man vielleicht ohne Impulskontrolle ins Handy getippt. Macht man aber nicht. Überhaupt, sich zu beschweren, klänge irgendwie kleinlich heutzutage, da man immer in alle Richtungen beweglich bleiben will. „Schade“, schreibt man dann nach einem tiefen Atemzug. Oder noch schlimmer: „Okay.“
Jein als Massenphänomen: Schwer zu beweisen, leicht erzählt
Dabei ist es überhaupt nicht okay. Die Versuchung zur „freundlichen Unverbindlichkeit“ sei die Ursünde des modernen Menschen, das ist eine nicht ganz neue Klage. Das Zitat stammt von Albert Camus, ist also schon was her. Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich nicht doch etwas geändert hat, weil so viele Menschen um einen herum nur noch im Vagen kommunizieren.
Das Jein scheint ein Massenphänomen zu sein, was schwer zu beweisen, aber anekdotisch schnell zu belegen ist: „Ich hatte mal einen Tanzpartner, der mich wahnsinnig gemacht hat, weil ich um 17 Uhr nicht wusste, ob wir um 19 Uhr tanzen“, erzählt zum Beispiel Andrea von Graszouw. Noch mehr Geschichten kann sie aus ihrem beruflichen Alltag zum Besten geben.
Warum reagieren Menschen erst im letzten Moment?
Die Konfliktmanagerin berät Führungskräfte in Unternehmen und erlebt, dass die Unmöglichkeit, sich eindeutig festzulegen, inzwischen alle Ebenen erreicht hat. Es geht mitunter so weit, dass sich im Betrieb keiner findet, der den Gesprächstermin mit einem Bewerber wahrnehmen kann. Was manchmal egal ist, weil es Bewerber gibt, die gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch erscheinen. Oder: „Man reißt sich förmlich den Arsch auf, gibt gute Arbeit hoch – und dann kommt keine Rückmeldung von oben. Nichts. Silence.“
Alles Beschwerden, die von Graszouw zu hören bekommt. Wie kann das sein? Warum reagieren Menschen heute nicht oder erst im letzten Moment?
Für viele ist die Belastung zu groß
Darauf gibt es offenbar so viele Antworten wie lahme Ausreden. Im Beruf, so liegt der Verdacht nahe, wird der Unverbindlichkeit inzwischen systematisch Vorschub geleistet. „Viele gelangen im Job schlicht an ihre Belastungsgrenze“, sagt von Graszouw.
Sie gehen komplett in der Flut von Informationen und Ansprüchen unter. Hunderte von Mails laufen am Tag ein, jeder will etwas von einem. Diese Überforderung hat unmittelbare Auswirkungen auf die eigene Verfügbarkeit: „Da muss man priorisieren. Allein, um sich zu schützen und das tut jeder gemäß seiner eigenen Werte und Bedürfnisse.“
Am wichtigsten ist natürlich der Termin, der für die Betroffenen in dem Moment die höchste Dringlichkeit hat. Alle anderen müssen warten. Und ist das nicht verständlich, da doch von allen ein Höchstmaß an Flexibilität erwartet wird?
Kurzfristig absagen, ohne jemandem in die Augen zu schauen
Ähnliches im Privaten: Mit den digitalen Kommunikationsmitteln wächst die Zahl der Anfragen, zu denen man sich irgendwie verhalten muss. Schon wieder in einer WhatsApp-Gruppe gelandet, die einen Kindergeburtstag, eine Hochzeit, einen Ausflug und einen lustigen Abend organisieren will. Das erfordert jedes Mal einen Blick in den Kalender, eine Bewertung und möglicherweise eine Absprache mit der Familie.
Und was, wenn man am besagten Tag einfach keine Lust hat? Sich noch was Schöneres ergibt? Weil das alles auszuloten anstrengend ist, kann man ja erstmal zusagen. Kurzfristig absagen ist schließlich einfach, dafür muss man niemandem mehr in die Augen sehen. „Sorry, heute nicht, kaputt, hach, irgendwas …“ Damit wird die frühe Zusage zur wertlosen Phrase. Und jeder ist angehalten, kurz vor dem Ereignis auf dem Handy nachzulesen, ob es überhaupt noch stattfindet.
„Die Botschaft ist immer: Ich bin dem anderen nicht wichtig genug“
Eigentlich muss man es niemandem mehr sagen: Aber diese schlurige Vielleicht-Manier kommt bei den wenigsten gut an. „Denn die Botschaft ist immer: Ich bin dem anderen nicht wichtig genug“, sagt von Graszouw. Wer zu einer Verabredung einlädt oder um ein Feedback bittet, der hat nicht nur eventuell bereits einen organisatorischen Aufwand geleistet (Babysitter …), er hat sich mehr oder weniger emotional engagiert.
Wer andere nur knapp vertröstet oder ignoriert – aus welchem Grund auch immer – sorgt für kleinere oder größere Kränkungen. „Man kann sich ja selbst mal beobachten: Manche fühlen die Zurückweisung geradezu körperlich, in der Kehle, etwa. Sie wenden sich ab, sind traurig oder ärgerlich.“
Wenn absagen, dann mit Alternative
Soziale Schmerzen nennen Neurowissenschaftler das. Leider bleiben viele in diesem Verletztsein stecken. Reden hilft Andrea von Graszouw soll als Konfliktmanagerin in Unternehmen dafür sorgen, dass niemand das einfach so hinnimmt. „Wer sich übergangen fühlt, der muss es thematisieren“, sagt sie. Das klingt banal, ist aber schwierig. Wohl dem Unternehmen, das Menschen wie von Graszouw engagiert hat.
Denn viele brauchen eine genaue Anleitung dafür, wie sie ihrem Ärger Luft machen. Die Beraterin erarbeitet in Teams genaue Regeln fürs Miteinander und ermuntert alle, einfach zu sagen, was ist. Und rät jedem, der absagt, wenigstens eine Alternative anzubieten. Außerdem konfrontiert sie die Führungskraft damit, dass auch aktives Zuhören eine ihrer wesentlichen Aufgaben ist. „Wir brauchen eine menschlichere Arbeits- und Kommunikationskultur.“
Das umzusetzen, erfordert immer ein Mindestmaß an Empathie. Die Fähigkeit, sich für einen Augenblick in die Schuhe des anderen zu stellen, kann man den meisten unterstellen. Wobei es sehr unglückliche Sonderfälle gibt. „Ich habe leider auch mit Menschen zu tun, die kritikunfähig sind. Die sich für unfehlbar halten und denen es schlicht egal ist, was sie mit ihrem Verhalten auslösen.“
Am Ende kommt es möglicherweise zum Kontaktabbruch
Doch selbst Narzissten - vor allem Narzissten - muss man davon überzeugen, dass sich eine Veränderung auf Dauer auszahlt. „Ich plädiere immer und in jedem Fall für Neugier. Also zu Gesprächen mit jedem, um voneinander zu lernen.“ Multioptionale Gesellschaft Auch Gabrielle Rütschi ist unbedingt für die Aussprache.
„Weil jeder etwas Anderes unter Verbindlichkeit versteht, muss man darüber reden“, sagt die Psychologin und Therapeutin. Ansonsten kommt es am Ende zu einem womöglich überflüssigen Kontaktabbruch. Im Extremfall verschwindet der eine einfach von der Bildfläche. Ghosting, einfach fort. Das ist furchtbar, aber damit hat Gabrielle Rütschi in ihrer Praxis tatsächlich zu tun. „Da haben beide Parteien nie geklärt, was sie wirklich voneinander wollen.“
Vorbehalt ist in Ordnung – Rücksichtslosigkeit nicht
Es ist ja nicht so, dass Unverbindlichkeit per se verwerflich sei. Im Gegenteil: Lange genug, war gesellschaftlich genau vorgeschrieben, wie etwas zu sein hatte. Ein Arbeitsverhältnis, eine Liebesbeziehung und eine Ehe mussten in ein enges Schema zu passen. Heute hat man sich aus der Bevormundung vieler Traditionen freigekämpft.
Aber etwas unter Vorbehalt zu stellen, ist nur so lange in Ordnung, wie es nicht in Rücksichtslosigkeit umschlägt. Wenn zwei Menschen heute eine rein sexuelle Beziehung eingehen, sagt Gabrielle Rütschi, ist daran nichts richtig oder falsch. „Es wird nur ein Problem, wenn einer anfängt, die Sache anders zu bewerten – und nicht darüber spricht.“
Trend zur Selbstoptimierung verstärkt das Flatterhafte
Nun haben gerade die sozialen Netzwerke diese Gespräche gefährlich verflacht. Im Internetsupermarkt wird suggeriert, dass die Optionen unendlich seien. Urlaub, Kleiderschrank und Partner lassen sich schnell anklicken und genauso schnell wieder stornieren und aus dem Warenkorb entfernen.
Denn, wer weiß, was da noch auf einen wartet? Etwas Besseres, womöglich the perfect match? Der Trend zur Selbstoptimierung verstärkt das Flatterhafte. „Ich sehe, dass diese Ichbezogenheit überhandnimmt“, sagt Rütschi und spricht von einer egozentrischen Wegwerfbeziehungsgesellschaft.
Der unverbindlich Suchende ist auch nicht glücklich
Die technologisch begünstigte Zwang- und Ruhelosigkeit mag zwar Zeitgeist sein, aber unsere Gefühlsreaktionen auf den losen Umgang miteinander sind immer noch die alten: Er tut niemandem auf Dauer gut. Der so unverbindlich Suchende ist auch nicht glücklicher. „Das mag eine Weile gut gehen, dann sehnt man sich doch nach Halt“, sagt Rütschi. Zu einer Beziehung ist man dann möglicherweise aber gar nicht mehr fähig. „Dabei kann man auch mit aller Entschiedenheit, Freude und Leid in einer Beziehung aushalten.“
Abgesehen davon, steckt die Gemeinschaft mit einem Menschen ebenso voller Optionen. Gabrielle Rütschi erlebt gerade, dass die Generation der 20- und 30-Jährigen nicht sagen kann, wenn sie mit einem unzuverlässigen Verhalten nicht einverstanden sind. Warum? Ist es Angst vor der Konfrontation? Oder bloße Bequemlichkeit? Vielleicht hat man nie gelernt, was einem guttut und wie man dafür einsteht.
Haltung, Energie und Mut: Der Weg zur Verbindlichkeit
„Doch genau das ist die einzige Möglichkeit, etwas zu verändern“, sagt die Psychologin. Verlieren kann man dabei nichts. Sollte der andere auf Nachfrage unangemessen reagieren, kann man ihn ziehen lassen. Oder es tut ihm leid, man kommt ins Gespräch und fängt an zu verstehen. Zum Beispiel, dass der andere kein Geld hatte und deswegen nicht mit in die Pizzeria kommen wollte. Möglicherweise hatte er auch Kummer. Oder, oder, oder. Wer weiß das schon?
Um diese Gespräche zu suchen, braucht es Haltung, Energie und Mut. „Der Preis ist aber doch, endlich zu wissen, wer man ist und wie man sich in den Erwartungen näherkommen kann“, sagt Rütschi. „Das ist der Weg zur Verbindlichkeit.“
Weniger Egozentriker und mehr soziale Wesen
„Wir sind leider Meister in der Konfliktvermeidung und es potenziert sich“, beobachtet die Beraterin Andrea von Graszouw. Es ist eine innere Wachstumsarbeit, dagegen anzugehen. Tun wir das nicht, führt diese Wankelmütigkeit zur weiteren unschönen Spaltung in der Gesellschaft, zur Vereinzelung und Isolation. „In meinen Augen, pauschal gesagt, zu einer depressiven Gesellschaft.“ Die Krisen, Kriege und Katastrophen um einen herum machen es einem natürlich nicht leichter. Bewusst oder unbewusst vermittelt uns die Weltlage den Eindruck, dass unser Leben zu komplex ist, um es wirklich zu kontrollieren. Es scheint unplanbar.
Irgendwie müssen wir aber alle da durch und so komplett formlos schafft es keiner mehr vom Fleck. „Wir brauchen weniger Egozentriker und mehr soziale Wesen, die mit mehr Verlässlichkeit und Verantwortung wenigstens für Orientierung sorgen“, sagt von Graszouw. Und für weniger Komplexität möchte man hinzufügen. Und mehr Vorfreude.
Was heißt das für die Praxis? „Mein Tanzpartner hat mir in einer Aussprache erzählt, dass er beruflich immer so verbindlich sein muss, dass er privat in seinen Entscheidungen frei bleiben möchte. Das ist sein gutes Recht“, sagt von Graszouw. Heute sind die beiden weiterhin Freunde, aber zum Tanzen hat sie sich einen anderen Partner gesucht. Und die Freundin, die zum vierten Mal abgesagt hat, war gar keine Freundin. Eher eine Bekannte, der man jetzt nur noch zufällig begegnet. Ist okay, spart den Babysitter.