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Stillen in Deutschland„Wie, du stillst nicht?“

Lesezeit 3 Minuten

In Deutschland bleibt das Fläschchen im Normalfall leer.

Die Milch fließt unter ständiger Überwachung. In Echtzeit zeigt das Display an, wie viel Milliliter das Baby an der Brust bereits aufgenommen hat. Am Ende des Stillens steht eine Zahl und das gute Gefühl: Mein Baby hat genug getrunken.

Das Muttermilch-Messgerät „Milksense“, das im Oktober erstmals auf der Kölner Messe „Kind und Jugend“ der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde, hat gute Chancen, zum Verkaufsschlager zu werden. Zurzeit gibt es die von einem israelischen Unternehmen patentierte Technik, die die Milchmenge in den Alveolen der weiblichen Brust elektromagnetisch misst, nur in Israel. Aber es wird wohl nicht lange dauern, bis sich auch in Deutschland ein Händler findet. Zu vielversprechend scheint der Markt der stillenden Mütter.

Still-Tief in den 70er Jahren

Babynahrung war in Deutschland schließlich nie nur Privatsache der einzelnen Mutter, sondern immer auch eine gesellschaftliche Mode. Und der letzte Schrei ist ganz klar: Stillen. In den 1960er und 1970er Jahren legten Frauen ihre Babys dagegen kaum an die Brust. Stillen galt damals vielen als suspekt: Von schönheitsschädigend bis gefährlich – wegen des Schadstoffgehalts der Muttermilch – reichten die Vorbehalte. Kein Wunder, dass Mitte der 70er nur die Hälfte der deutschen Mütter ihre Babys stillte. Heute hat sich die Debatte längst gedreht. Muttermilch gilt derzeit unter Experten einhellig als das beste aller Nahrungsmittel für Kinder. In Deutschland wirbt mit der Nationalen Stillkommission sogar eine staatliche Stelle für das Stillen. „Der Trend hat sich gedreht, weil man dank der Forschung heute zunehmend weiß, wie wichtig das Stillen für die Gesundheit von Mutter und Kind ist“, sagt Professor Mathilde Kersting, stellvertretende Leiterin des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund.

Ein Wissen, dass sich in Zahlen spiegelt: Neun von zehn Frauen in Deutschland wollen ihr Neugeborenes stillen – aber immer noch geben viele bereits nach Tagen oder Wochen ganz oder teilweise auf. Nach vier Monaten geben nur noch 60 Prozent der Frauen ihrem Baby die Brust, und nur noch die Hälfte davon stillt ausschließlich.

Die Gründe dafür sind vielfältig und oft persönlich. Manche Frauen wollen ihre Körper einfach wieder für sich, andere sind nach Schwangerschaft und Geburt ausgelaugt, wieder anderen fehlt es an Unterstützung und Stillwissen. Sicher ist: Viele Frauen fühlen sich in ihrer Entscheidung pro oder kontra Stillen nach wie vor unter einem gewissen Druck.

Empörung und Unverständnis

„Unverständnis, Empörung und Anfeindungen sind die Reaktionen, die Mütter an den Augen oder in den Worten anderer ablesen können, wenn sie nicht stillen können oder wollen“, sagt Regina Masaracchia, Stillberaterin und Autorin des Ratgebers „Wie, du stillst nicht?“. „Dabei wird vergessen, dass auch die Mutter, die nicht stillt, das Beste für ihr Kind will.“ Es gehöre „nicht wenig Mut dazu, in Deutschland eine bekennende Nichtstillerin zu sein“, schrieb kürzlich auch eine Journalistin in der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Experten warnen, dass das Wissen um die nachweislich bessere Ernährung so auch zum Bumerang werden könne. Nämlich dann, wenn Frauen nicht stillen können oder wollen – und sich schuldig fühlen. „Schuldgefühle wären ganz schlecht für die Mutter-Kind-Beziehung. Die kann nur gut sein, wenn die Mutter überzeugt ist, für ihr Baby alles richtig zu machen“, sagt Mathilde Kersting. Daher müsse man sich davon lösen, Mütter zu diskriminieren, die nicht stillen. „Man muss sie über die Vorzüge des Stillens aufklären, aber jeder Frau eine eigene Entscheidung zubilligen“, sagt Kersting. „Auch mit Flaschenmilch kann man ein Kind heute gut ernähren.“