TabuthemaWas Eltern nicht über Mädchen und Sex wissen wollen – aber sollten
Köln – Mädchen und Jungen sind gleichberechtigt. Diesen Satz würden viele unterschreiben. Doch was passiert, wenn sie in die Pubertät kommen? Was geschieht, wenn es um Sexualität geht? Dann ist Gleichberechtigung auf einmal kein Thema mehr, wie die US-Amerikanerin Peggy Orenstein in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Girls & Sex. Was es bedeutet, in der Gesellschaft von heute erwachsen zu werden“ verdeutlicht. Und dafür sind – zu einem nicht unerheblichen Teil – auch die Eltern verantwortlich, wie die Autorin, die selbst eine Tochter in der Vorpubertät hat, aufzeigt.
Die Journalistin hat für ihr Buch mit 70 Mädchen und jungen Frauen aus den USA zwischen 15 und 20 Jahren über ihre Sexualität und ihre Erfahrungen gesprochen und kam dabei zu teilweise schockierenden Ergebnissen. Die Befragten kamen aus allen Schichten und politischen Milieus, sie hatten unterschiedliche Konfessionen und ethnische Hintergründe. Zehn von ihnen gaben an, lesbisch oder bisexuell zu sein. Eins einte sie alle: Jedes befragte Mädchen sei in der Schule schon belästigt worden, schreibt Orenstein.
Die Ergebnisse sind auf Deutschland übertragbar
Das Vorwort der deutschen Ausgabe stammt von Pro Familia. Darin heißt es, dass die Ergebnisse einer solchen Befragung hierzulande ähnlich ausfallen würden, trotz aller Unterschiede zwischen den USA und Deutschland. Viele der beschriebenen Befunde seien den Mitarbeitern des Fachverbands für Familienplanung, Sexualität und Sexualpädagogik aus der Beratung bekannt.
„Mädchen dürfen sich schon seit Jahrzehnten mit ‚Pippi Langstrumpf‘ und ‚Ronja Räubertochter‘ identifizieren und müssen nicht mehr nur brav, angepasst und hübsch sein“, schreibt der Verband. „Sie sollen sich nicht unterkriegen lassen und können selbstbewusst all das in Anspruch nehmen, was auch Jungs zugestanden wird.“ All das gelte jedoch plötzlich nicht mehr, wenn sie in ein Alter kämen, in dem Sexualität eine Rolle spiele. „Dann müssen sie vorsichtig werden, plötzlich auf ihren ‚Ruf‘ achten.“
Jungen sind „coole Aufreißer“, Mädchen „Schlampen“
Was aber passiert, wenn die wilde Ronja Räubertochter von damals sich auch heute noch nimmt, was sie will: Wenn sie als Jugendliche die Jungs vom Pausenhof reihenweise abschleppt? Trotz der veränderten Erwartungen und Chancen unterlägen junge Frauen „immer noch derselben alten Doppelmoral, dass ein sexuell aktives Mädchen eine ‚Schlampe‘ ist, während ein sexuell aktiver Junge als cooler ‚Aufreißer‘ gilt“, schreibt Orenstein.
Mädchen sähen sich mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert. Sie sollten nicht zu prüde wirken und sich auch in den sozialen Medien als „möglichst attraktiv und freizügig“, als „‚sexy‘, aber auf keinen Fall ‚nuttig‘“ inszenieren.“
„An vier von fünf Tagen wird mir in der Schule hinterhergerufen“
Mit dem Ergebnis, dass viele von ihnen vollkommen verwirrt sind. „Wie soll man sich da verhalten?“, fragt eine Oberstufenschülerin. Die Eltern waren den befragten Mädchen nicht unbedingt eine Hilfe. „Eltern stritten mit ihren Töchtern über zu kurze Shorts, zu tiefe Ausschnitte, hautenge Yogahosen, die ‚alles zeigten‘“, schreibt Orenstein. Eine Probandin, Camila, berichtet, eine Schulmitarbeiterin habe zu ihr gesagt, ihre Kleidung lenke ab: „Denk doch an deine Lehrer und männlichen Mitschüler.“
Daraufhin habe sie geantwortet: „Vielleicht sollten keine männlichen Lehrer eingestellt werden, die mir auf den Busen starren.“ Und: „An vier von fünf Tagen wird mir in der Schule hinterhergerufen, ich werde angestarrt, ich werde von oben bis unten gemustert und ich werde angefasst“, so die wütende Oberstufen-Schülerin im Gespräch mit Orenstein. Diese Belästigungen seien für sie extrem ablenkend.
Mädchen wurden ab der Mittelstufe aufgefordert, Nacktfotos zu verschicken
Camila ist kein Einzelfall. Orenstein berichtet von Jungen, die einen Instagram-Account erstellt hatten, der alle „Schlampen“ einer Schule und ihre angebliche sexuelle Vorgeschichte auflistete, von Jungen, die Mädchen auf Partys einem „Schönheitstest“ unterziehen, bevor diese auf die Tanzfläche dürfen, von Jungen, die sich beim Tanzen ungebeten von hinten an ihren Hintern rieben. „Die Mädchen, mit denen ich gesprochen habe, wurden von der Mittelstufe an ständig dazu aufgefordert, Nacktfotos zu verschicken.“
Diese Entwicklung, dass Mädchen zunehmend als Objekt gesehen werden und sie sich zum Teil auch selbst so sehen, hängt auch mit dem Vormarsch sozialer Medien wie Instagram und Snapchat zusammen: Sie hätten „die Externalisierung des Selbstbildes junger Frauen noch weiter verstärkt“, so Orenstein. Jede junge Frau wisse, sagt Matilda, eine Oberstufenschülerin, dass sie „für das Posten eines Bikini-Bildes von sich selbst zehnmal mehr ‚Likes‘ bekommen wird als für ein Bild in einer Skijacke.“
40 Prozent der Jugendlichen sind mit Pornos in Kontakt gekommen
Sei es für junge Frauen Ende des 19. Jahrhunderts noch erstrebenswert gewesen, empathischer und belesener zu werden, sei der Körper heute „zum ultimativen Ausdruck des weiblichen Selbst geworden und hat sich von einem ‚Projekt‘ zum bewusst vermarkteten ‚Produkt‘ entwickelt.“
Hinzu kommt, dass Pornos heute viel weiter verbreitet und für Teenager viel leichter zugänglich sind. Über vierzig Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und 17 Jahren waren laut Orenstein schon Online-Pornographie ausgesetzt, viele davon versehentlich.
Porno-Szenen werden zusehends als normal empfunden
Pornographie ist heute immer expliziter und grenzüberschreitender: „Hintern-zu-Mund“-Praktiken, „Bukake“-Szenen, bei denen mehrere Männer auf das Gesicht einer Frau ejakulieren, und dreifache Penetration würden immer beliebter. „Es schmerzt mich zu hören, dass das fäkale Fetischvideo „Two Girls, One Cup“ für manche Mädchen der erste Kontakt mit Sex war“, schreibt Orenstein.
Wenn Teenager immer wieder bestimmten Themen ausgesetzt seien, steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie sie verinnerlichen und zum „Teil ihres sexuellen Skripts“ machen. Soll heißen: Je öfter Mädchen und Jungen solche Szenen sehen, desto eher empfinden sie es als normal, dass Frauen beim Sex erniedrigt werden und zur Erfüllung der Wünsche des Mannes zu allem bereit sein müssen.
„Für uns ist Oralverkehr keine große Sache“
Eine 18-jährige Schülerin erklärte Orenstein, dass es beim unverbindlichen Rummachen unter den Mitschülern nicht nur zum Küssen und gegenseitigen Befriedigen mit der Hand komme. „Für uns ist Oralverkehr keine große Sache. Jeder macht es“. Dabei sei aber nur der Blowjob für Jungen gemeint. „Mädchen werden nicht oral verwöhnt“, erklärte die Schülerin, ohne ihre Aussage zu hinterfragen. „Außer man ist in einer langfristigen Beziehung.“
Das erschreckendste Ergebnis von Orensteins Befragung: „Etwa die Hälfte der Mädchen hatte Erfahrungen irgendwo im Spektrum zwischen Nötigung und Vergewaltigung gemacht“, so die Journalistin. „Ebenso beunruhigend war, dass nur zwei der betroffenen Mädchen zuvor schon mit einem Erwachsenen darüber gesprochen hatten.“
Eltern müssen mit ihren Töchtern über guten Sex, Masturbation und den Orgasmus reden
Was also können Eltern tun? Nicht nur um ihre Töchter vor solchen Erlebnissen zu schützen, sondern auch, um sie im lustvollen Erleben ihres eigenen Körpers zu fördern und sie in ihrer sexuellen Identität zu stärken?
Orenstein ist überzeugt: Es reicht nicht aus, „unsere Töchter über die Mechanismen der Fortpflanzung aufzuklären, sie zum Widerstand gegen unerwünschte sexuelle Handlungen zu ermutigen oder ihnen zu sagen, dass Vergewaltigung nicht ihre Schuld sei.“
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Eltern von heute sollten sich an die Themen trauen, die auch heute noch als Tabu gelten, wenn es um Mädchen geht: Eltern müssten „mit ihnen über guten Sex reden und damit anfangen, wie ihr eigener Körper funktioniert, mit Masturbation und Orgasmus“, so die Journalistin. „Ich will, dass Mädchen in der Sinnlichkeit ihres Körpers schwelgen, ohne darauf reduziert zu werden.“
Jugendliche wünschen sich mehr Infos zu Sex-Themen von ihren Eltern
Eine Freundin von Orenstein habe ihr widersprochen: „Darüber wollen sie doch von uns nichts hören“. Das Gegenteil sei der Fall, so die Autorin, und zitiert eine Studie aus dem Jahr 2012 mit mehr als 4000 befragten jungen Amerikanern, der zufolge sich die meisten von ihnen gewünscht hätten, vor ihrer ersten sexuellen Erfahrung mehr Informationen darüber bekommen zu haben – insbesondere von ihren Eltern.
Zum Weiterlesen: Peggy Orenstein: Girls & Sex. Was es bedeutet, in der Gesellschaft von heute erwachsen zu werden, Mosaik Verlag, 368 Seiten, 18 Euro.