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Lese- und SchreibschwächeWie es sich mit Legasthenie lebt und welche Tricks helfen

Lesezeit 5 Minuten
Ein Mädchen am Schreibtisch stützt ihren Kopf in die Hand.
Catherine Falls Commercial
Getty Images

Wenn das Kind einen Rechtschreibfehler bei einem Wort immer wieder an verschiedenen Stellen setzt, sollten Eltern stutzig werden.

Wer rätselt, ob und wo bei Rhythmus oder Legasthenie das „h“ kommt, ist nicht gleich Legastheniker. Betroffene sind weder dumm noch faul.

Mal endet der Hund auf „t“, mal auf „dt“ und dann plötzlich taucht in der Mitte ein doppeltes „nn“ auf: Wenn das Kind einen Rechtschreibfehler bei einem Wort immer wieder an verschiedenen Stellen setzt, sollten Eltern stutzig werden. „Das ist ein typisches Zeichen für eine Rechtschreibstörung“, sagt Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL).

Damit unterscheidet sich das Kind von einem anderen, das die Maschine immer wieder mit „ie“ schreibt und etwa bedingt durch eine Trennung der Eltern, einem längeren Krankheitsausfall oder einem Schulwechsel eine Schreibschwäche entwickelt hat.

„Die Rechtschreibstörung beruht dagegen darauf, dass der Arbeitsspeicher im Kopf nur sehr schwer Wörter abspeichern kann“, erklärt Höinghaus. Das Kind müsse sich ein Wort immer wieder neu erarbeiten.

Wenn die ganze Energie ins Lesen investiert wird

Viel Energie verpulvere ein Kind auch, wenn es unter der Lesestörung leidet. „Da haben die Kinder Schwierigkeiten, aus Buchstaben Silben zu bilden“, sagt Höinghaus. Eltern merken das, wenn das Kind sehr langsam und stockend liest und den Sinn des Textes gar nicht erfassen kann, zählt die Expertin Anzeichen auf. Wenn die ganze Kraft ins Lesen investiert wurde, ist keine mehr da, um den Text zu verstehen.

Ein Kind liegt auf dem Sofa und liest ein Buch.

Kinder mit einer Lesestörung investieren viel Energie, um Wörter zu erfassen. Oft reicht die Kraft dann nicht mehr aus, den Sinn des Textes auch zu verstehen.

Doch was passiert dabei im Kopf des Kindes? Hirnareale im Sprachzentrum springen nicht richtig an, sodass sich die Synapsen nicht ausreichend vernetzen können. „So wird das Gelesene nicht abgespeichert. Die Ursache ist eine neurobiologische Störung durch einen Gendefekt“, erklärt Annette Höinghaus. Man müsse sich das wie eine Farbblindheit vorstellen.

Wer Stolperzeichen bei seinem Kind beim Lesen oder Schreiben beobachtet, sollte das bei psychologischen Psychotherapeuten oder Kinder- und Jugendpsychiatern abklären lassen, empfiehlt die BVL-Sprecherin.

So werde entsprechend dem Alter und der Klassenstufe abgeklopft, ob das Handicap nicht andere Ursachen haben kann, etwa Probleme im Umfeld wie Scheidung oder Mobbing. Auch eine Hör- oder Sehbeeinträchtigung oder Konzentrationsprobleme durch ADHS können Ursachen für „normale“ Flüchtigkeitsfehler sein.

Vermeidungsstrategie: Kind lässt sich lieber vorlesen

Das Problem an einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung ist auch, dass sie oft zu spät erkannt wird. „Wenn Kinder nur langsam in einen flüssigen Leseprozess kommen, fehlt der Lesespaß. Dann vermeiden sie, überhaupt zu lesen“, so Höinghaus. Typisch für die Vermeidungsstrategie sei, dass Kinder sich gerne vorlesen lassen, aber nicht selber lesen wollen – höchstens die Bilder anschauen.

Betroffen von Legasthenie sind gar nicht so wenige Schülerinnen und Schüler: „Insgesamt gehen wir von 10 bis 12 Prozent aus, davon sind etwa 5 Prozent betroffen von isolierter Lesestörung, nochmal 5 Prozent von isolierter Rechtschreibstörung und der Rest ist von einer kombinierten Störung betroffen“, sagt Annette Höinghaus.

Die gute Nachricht ist allerdings: Mit einer individuellen Förderung braucht es circa zwei Jahre, bis die meisten Kinder mit entsprechenden Störungen an den Klassendurchschnitt herankommen. „Leider findet das nur selten statt – entweder fehlen Lehrkräfte oder Lehrkräfte haben dafür keine Zeit beziehungsweise nicht die notwendige Förderkompetenz“, bedauert die Verbandssprecherin.

Sie hat aber Tipps, was betroffenen Kinder einer Lese- beziehungsweise Rechtschreibstörung helfen kann.

6 Tipps zur Hilfe bei einer Lesestörung:

1. Große Schrift: Bücher sollten eine groß gedruckte Schrift haben, mindestens Punkt 14, keine Serifenschriften mit horizontalen Endstrichen wie Times New Roman und Garamond. Und der Abstand zwischen den Zeilen sollte mindestens 1,5 betragen. „Anderenfalls verrutscht man oft in der Zeile.“

2. Eltern sollten sich mit Lehrkräften besprechen, ob sie Texte nicht dementsprechend aufbereiten können. So sollten Arbeitsblätter nicht mit Texten überfüllt sein und vielleicht noch verschiedene Sachen auf einer Seite zusammenkopiert werden.

Höinghaus: „Das verursacht bei betroffenen Kindern schon Stress beim bloßen Ansehen.“ Eine eng beschriebene A4-Seite motiviere nicht. „Ganz im Gegenteil: Sind Blätter überfrachtet, denkt das Kind: Das schaffe ich sowieso nicht.“

3. Lehrkräfte sollten helfen, damit nicht alles von der Tafel abgeschrieben werden muss. Sonst können die Kinder dem Unterricht nicht folgen, weil sie durch das Abschreiben „blockiert“ werden. Auch die Hausaufgaben von der Tafel abschreiben – das schaffen Kinder mit Legasthenie oft nicht ohne weiteres. Wenn es nicht anders geht, sollte es diesen Kindern erlaubt sein, das Tafelbild mit dem Handy abzufotografieren oder der Lehrer verschickt es als E-Mail.

4. In Zeiten der Digitalisierung sollten Arbeitsblätter aufs Tablet geschickt werden. Da kann man sich die Schrift passend machen. „Wenn das alle Schüler in der Form bekommen, fällt das Kind mit Legasthenie gar nicht als Sonderling auf“, schlägt Annette Höinghaus vor.

5. Um Lesespaß zu entwickeln, kann man bestehende Hobbys nutzen. Wenn das Kind etwa Pferde liebt, Detektiv- oder Fußballspielen, könnten Eltern mit dem Kind Bücher zu diesen Themen gemeinsam lesen. „Am besten immer abwechselnd – die Eltern einen größeren Teil, das Kind einen kleinen“, rät Höinghaus. So bekomme das Kind auch mit, um was es in dem Buch geht.

6. Kommt das Kind an eine weiterführende Schule, kann man auch eine Vorlesesoftware nutzen.

3 Tipps zur Hilfe bei einer Rechtschreibstörung:

1. Sind sich die Kinder bei der Schreibweise unsicher, hilft oft der Plural-Trick. Etwa um herauszufinden, ob Kamm mit einem oder zwei „m“ richtig ist. Die Mehrzahl-Form Kämme führt hier schneller ans Ziel. So funktioniert das auch beim Wort Hund. Eigentlich klingt das am Ende nach einem „t“, aber in der Mehrzahl Hunde hört man das „d“ viel eindeutiger.

2. Es hilft auch, Worte laut vorzusprechen. „Das ist allerdings ein Problem, wenn regional mit Dialekt gesprochen wird. Deshalb sollten Eltern versuchen, Hochdeutsch zu sprechen“, rät die Expertin.

3. Wenn Fremdsprachen hinzukommen, kommt die nächste Hürde. Weil die geschriebene Sprache oft enorm von der gesprochenen abweicht, kann man die Lehrkraft bitten, die Vokabeln bei Betroffenen mündlich zu prüfen. „Dann sieht man: Das Kind hat ja geübt und die Wörter nach dem Klangbild abgespeichert“, sagt Annette Höinghaus. Sind Lehrkräfte für andere Prüfungsformen nicht offen, mache das die Lernsituation kaputt und das Kind wird mit doppelt schlechten Noten bestraft. (dpa)