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„Nicht lebensfähig“Was ein später Schwangerschaftsabbruch für Eltern bedeutet

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Eine schwangere Mutter schaut sich das Ultraschallbild ihres Kindes an.

Hurra, ein Mädchen! Sie hatten bereits einen zweijährigen Sohn, nun freuten sich Sandra und ihr Mann auf die Tochter. Sie planten eine Hausgeburt, besuchten einen Hypnobirthing-Kurs, damit sie ihr Baby möglichst entspannt auf die Welt bringen konnte. Doch beim 3D-Ultraschall in der 20. Schwangerschaftswoche wurde Sandra skeptisch.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie die Ärztin. Die beruhigte. „Alles bestens! Bis in vier Wochen“. Sandra erinnerte sich an den tollen Moment, in dem sie ihren Sohn zum ersten Mal im Ultraschall gesehen hatte. Dieses Mal war es anders. Das Gesicht war nicht richtig zu erkennen. Lag es daran? Sie recherchierte, glich Daten ab und stellte fest: Der Kopf war viel zu klein. Sie rief die Ärztin an. Die beruhigte wieder. Kinder wachsen halt in Phasen.

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Schon in der 10. Woche ist das Ungeborene deutlich zu erkennen und man kann seinen Herzschlag auf dem Ultraschallgerät sehen.

Vier Wochen später, Sandra war bereits im sechsten Monat, konnte man das Gesicht von ihrer Tochter noch immer nicht erkennen, die Ärztin schickte sie zum Spezialisten. Während der Untersuchung brummte der Professor nur in sich hinein. Als Sandra wieder angezogen war, setzten sie sich ihm gegenüber an einen Tisch. „Ihr Kind ist leider schwerst behindert.“ Das sagte er und legte einen Flyer auf den Tisch. Infos. In Sandras Kopf drehte sich alles.

Das Ende aller guten Hoffnung

„Ich verstand nichts“, sagt Sandra. Gerade war aus ihrer guten Hoffnung ein Alptraum geworden. Die Gehirnhälften ihrer Tochter hatten sich nicht geteilt, es war zu viel Wasser im Kopf, sie hatte einen schweren Herzfehler, eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, einen fehlerhaften Blutkreislauf und keine Nase. Diagnose: „letal“. Nicht lebensfähig.

Sollten sie warten, bis sie von selbst sterben würde? Oder sollten sie sie vorher erlösen?

Es ist genau diese Geschichte, die der einzige deutsche Beitrag der diesjährigen Berlinale zum Thema machte: das Tabu Spätabtreibung. Julia Jentsch und Bjarne Mädel spielen in „24 Wochen“ ein Paar, das vor genau dieser Entscheidung steht – und holt darin den Zuschauer mit in die Entscheidung herein. Sollen sie? Sollen sie nicht?

„Eine unmenschliche Entscheidung“

„Es ist eine schier unmenschliche Entscheidung, die Eltern nach einer solchen Diagnose treffen müssen“, sagt Sandra. Welches Leben ist lebenswert? Welches nicht? Dürfen wir richten? Es gibt keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen.

99.715 Schwangerschaftsabbrüche wurden laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2014 in Deutschland durchgeführt. 584 davon wurden nach der vollendeten 22. Schwangerschaftswoche durchgeführt, so genannte „Spätabbrüche“. Regulär sind in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche nur bis zur 12. Woche erlaubt.

Die rechtlichen Bedingungen

Ein Abbruch nach der 12. Woche ist nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Dafür muss etwa die „seelische oder körperliche Gesundheit der Schwangeren“ durch die Fortsetzung der Schwangerschaft stark gefährdet sein. Und: zwischen der Mitteilung der Diagnose und dem Abbruch müssen mindestens drei Tage liegen.

Eine weitere Untersuchung bestätigte den schlimmen Verdacht, wie Sandra zu ihrer Entscheidung fand - lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

„Niemals würde ich ein Kind abtreiben“. Das war für Sandra klar, als sie noch nicht selbst betroffen war. Ihr Baby strampelte im Bauch, sie spürte die Tritte. Den Arzt, der zum ersten Mal von einem Abbruch gesprochen hatte, hielt sie für „verrückt“. Doch dann bestätigte eine weitere Untersuchung: Ihre Tochter würde sterben – vor, während oder sehr kurz nach der Geburt. Diagnose: Trisomie 13.

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Ja oder nein? Was soll ich nur tun? Viele Schwangere fühlen sich allein mit der Entscheidung.

Würde sie dahinvegetieren? Keine Luft bekommen? Ersticken? Für sie war diese Diagnose das letzte Puzzleteil in ihrer Entscheidungsfindung. Sie würde ihrer Tochter keine Qualen zumuten. „Ich wollte nicht, dass sie leiden muss. Ich wollte ihr nicht beim Sterben zuschauen, ohne etwas tun zu können.“ Die Entscheidung fiel an einem Dienstag.

Immer wenn ihre Tochter ruhig war, dachte Sandra: Vielleicht hat sie es selbst geschafft. Vielleicht brauche ich doch keine Entscheidung fällen. Doch dann kam wieder ein Tritt.

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Wenn ein Fötus bereits so weit entwickelt ist, dass er außerhalb des Mutterleibs theoretisch überlebensfähig wäre, wird vor dem Schwangerschaftsabbruch ein so genannter Fetozid durchgeführt. Dabei wird mit einer Spritze durch den Bauch zunächst ein Beruhigungsmittel in die Nabelschnurblutgefäße gespritzt und schließlich Kaliumchlorid injiziert. Innerhalb weniger Minuten tritt dann der Herzstillstand ein.

Sie nahm ihr eine Kuscheldecke mit

Es war ein Donnerstag als Sandra mit ihrer Kliniktasche ins Krankenhaus fuhr. Sie hatte eine Kuscheldecke für ihre Tochter mitgenommen, in die würde sie sie einwickeln, nach der Geburt, nach dem Tod. Das Warten auf dem Zimmer fühlte sich endlos an. Jeder Schritt auf dem Flur konnte bedeuten, dass es gleich losginge. Vorbei sein würde.

Es war 19.30 Uhr, als das Herz von Sandras Tochter Sekunden nach der Injektion aufhörte zu schlagen. Sie sah den Moment des Herzstillstandes auf dem Ultraschall. Ihr Mann weinte.

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Sandra Wiedemann: Am Ende aller guten Hoffnung – Sterbehilfe im Mutterleib?, edition riedenburg

Am nächsten Nachmittag setzten die Wehen ein und gegen 20 Uhr wurde Sandras Tochter still geboren: Angel Marie. 32 Zentimeter groß, 680 Gramm schwer. Sie hielten sie im Arm. Sie hießen sie willkommen und verabschiedeten sich.

Sandra hat ein Buch über ihre Entscheidung und ihre Konsequenzen geschrieben: „Am Ende aller guten Hoffnung“. Darin schreibt sie: Es war eine Entscheidung aus Liebe zu meinem Kind. Sie wurde bald wieder schwanger und bekam einen Sohn. In vier Wochen kommt ihr viertes Kind zur Welt.