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Wenn Eltern ihre Kinder verlieren„Ich hatte das Gefühl, in ein tiefes Loch ohne Boden zu fallen“

Lesezeit 6 Minuten
Menschen, die ihr Kind verlieren, verlieren einen Teil von sich selbst.

Menschen, die ihr Kind verlieren, verlieren einen Teil von sich selbst.

Marga Bielesch hat ein Kind verloren und mit „Nur zu Besuch“ einen berührenden Ratgeber für verwaiste Eltern geschrieben. Ein Interview.

Wir haben unsere Tochter im Kinderhospiz verabschiedet, in dieser Phase der tiefen Trauer habe ich noch nicht an ein Buch gedacht. Die Idee kam erst im Laufe der Zeit. Ich habe einfach gemerkt, dass dieses Schicksal sehr viele Paare und Eltern betrifft und wollte meine Erfahrungen aus dem Trauerprozess mit ihnen teilen und ihnen Mut machen, dass man auch diese schwere Phase als Paar oder Familie durchstehen kann, ohne am Ende das eigene Kind zu vergessen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass das Thema Sternenkinder noch mehr Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit in der Gesellschaft braucht – vielleicht kann ich mit meinem Buch auch dazu beitragen.

Wie lässt sich die Gefühlswelt von Eltern in Worte fassen, die ihr Kind während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt verlieren?

Wenn dein Kind stirbt, stirbt ein Teil von dir. Dieser tiefe Schmerz ist mit nichts zu vergleichen. Gerade am Anfang sind die Hilflosigkeit und die Trauer unfassbar groß. Man kann nichts tun, das Schicksal lässt sich nicht ändern. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als den schrecklichen Verlust zu ertragen. Schuldgefühle kommen auf, aber auch Ängste, Wut und Ohnmachtsgefühle. Auch ich hatte am Anfang das Gefühl, in ein tiefes Loch ohne Boden zu fallen. Mit der Zeit hat sich diese tiefe Traurigkeit in eine große Liebe verwandelt. Das heißt nicht, dass die Traurigkeit nicht mehr da ist, aber sie verändert sich. Ich empfinde jetzt vor allem Liebe und Dankbarkeit für meine Tochter. Am Anfang waren diese Gefühle noch von der Trauer überdeckt.

Viele verwaiste Eltern müssen sich um ihre anderen Kinder kümmern, kehren an den Arbeitsplatz zurück oder müssen einfach einen Alltag bestreiten. Wie gelingt dieser Spagat zwischen Alltag und tiefer Trauer?

Das ist eine schwierige Frage, auf die es keine allgemeingültigen Antworten gibt. Mütter, die ihr Kind sehr früh in der Schwangerschaft verlieren, müssen oft sofort wieder arbeiten. Ihnen fehlt oft der Raum, um zu trauern. Hinzu kommt, dass viele noch mit niemandem über die Schwangerschaft gesprochen haben und ihnen somit auch die Zuhörer für ihre Trauer fehlen. Manchmal fehlt im Umfeld auch das Verständnis für die Trauer um ein Kind, das eben „nur“ elf Wochen im Bauch gelebt hat.

Eltern, die bereits ältere Kinder haben, stehen vor der großen Herausforderung, den Familienalltag zu bewältigen und auch die Trauer der Geschwisterkinder zu begleiten. In solchen Momenten sind Auszeiten sehr hilfreich, wenn es die Möglichkeit dazu gibt. Ich selbst war vier Monate zu Hause, habe mir bewusst Zeit für die Familie und die Trauer genommen und gemerkt, wie wichtig und richtig diese Entscheidung war. Trauer, die heruntergeschluckt oder verdrängt wird, kann schwerwiegende Folgen für die seelische und körperliche Gesundheit haben.

Wie lasse ich meine Trauer zu?

Zunächst einmal muss man die Trauer zulassen und versuchen, sie zu verarbeiten. Dafür sollte man sich Zeit nehmen und Unterstützung suchen, sei es in der eigenen Familie und im Freundeskreis oder durch professionelle Angebote wie eine Trauergruppe oder auch einen Psychotherapeuten. Vielen Menschen helfen auch Trauerrituale wie das Gestalten einer Kerze für das Kind, das Schreiben von Tagebüchern oder Briefen oder der Besuch auf dem Friedhof. Das Zulassen der Trauer ist notwendig um mit dem Schmerz umzugehen.

Jede Art zu trauern ist gleich wertvoll und gleich gut
Marga Bielesch

Welche Hilfsangebote gibt es für die Eltern?

Dies hängt wiederum ein wenig davon ab, wann die Eltern ihr Kind verloren haben. Bei einer sehr frühen Fehlgeburt, also um die zehnte Schwangerschaftswoche, gibt es deutlich weniger Angebote, wenn man von Trauergruppen oder Seelsorgeangeboten absieht. Bei einer Totgeburt oder einem Tod wenige Wochen nach der Geburt haben die Eltern immerhin Anspruch auf den regulären Mutterschutz und die Betreuung durch eine Hebamme.

Sehr gute Unterstützung bieten auch Vereine für Eltern von Sternenkindern. Sie bieten oft Gesprächsangebote und vermitteln zu weiteren Angeboten wie Trauerbegleitung für Eltern oder Rückbildungskurse speziell für Sternenkindeltern. Der Kontakt zu diesen Vereinen wird am besten über die Kliniken oder Hospize hergestellt. Ich war selbst überrascht, wie groß die Gemeinschaft und wie vielfältig die Angebote sind, aber man muss gezielt danach suchen. Das ist in der Zeit der großen Trauer oft schwierig. Hier wäre eine größere Bekanntheit dieser Angebote in der Gesellschaft sicher hilfreich.

Wie geht man als Verwandte oder Freunde damit um, wenn jemand sein Kind verliert?

Ich finde es wichtig, Hilfe anzubieten, vielleicht nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern wirklich mal Essen vorbeizubringen oder auch mal aktiv anzurufen und mit ehrlichem Interesse nachzufragen, wie es denn so sei. Solche Unterstützung wird in der Regel auch dankbar angenommen. Aktiv werden sollte man auch, wenn man merkt, dass die Eltern gar nicht mehr aus ihrer Trauer herauszukommen scheinen. Dann kann ein offenes Gespräch und vielleicht auch die Empfehlung professioneller Unterstützung sehr hilfreich sein.

Ihr Buch „Nur zu Besuch“ wendet sich explizit an Paare. Wie wichtig ist die Partnerschaft im Trauerprozess?

Der Partner oder die Partnerin ist eine wichtige Stütze im Trauerprozess. Männer und Frauen trauern jedoch oft sehr unterschiedlich. Und um es klar zu sagen: Jede Art zu trauern ist gleich wertvoll und gleich gut.

Das Beste, was Paare in dieser Situation tun können, ist, sich gegenseitig Raum für die Trauer zu geben und Verständnis für die unterschiedlichen Formen zu haben. Manche Männer gehen zum Beispiel schnell wieder arbeiten, was auf den ersten Blick kalt und herzlos wirkt, aber auch eine Bewältigungsstrategie ist. Auch das Reden über die Trauer fällt Frauen oft leichter. Das heißt aber nicht, dass Männer keine Gefühle haben. Neben der individuellen Trauer ist es wichtig, gemeinsame Momente zu haben und in den Gefühlen zu bleiben. Lange und intensive Gespräche über den Verlust sind dabei ebenso wichtig wie gemeinsames Schweigen und Festhalten.

Was wird langfristig aus dem tiefen, schwarzen Loch, von dem Sie gesprochen haben?

Am Anfang ist der Verlust so dunkel und überwältigend. Aber irgendwann wandelt sich die Trauer in eine tiefe Liebe – vorausgesetzt, man hat seinen Gefühlen Raum gegeben und ist seinen Trauerweg gegangen. Heute ist unsere Tochter Lila allgegenwärtig. Sie ist in unseren Gesprächen und tief in unseren Herzen.

Früher hieß es immer, man müsse loslassen. Das halte ich für nicht richtig, denn wer will schon einen geliebten Menschen vergessen. Die Liebe zum Sternenkind bleibt, die Trauer auch. Aber sie ist nicht mehr so allgegenwärtig. Es klingt jetzt so leicht, aber ich habe manchmal nicht daran geglaubt, dass ich noch einmal so fühlen kann und heute wieder zuversichtlich durchs Leben gehen kann – auch, wenn das Leben jetzt ein anderes ist und ich auf diese Verlusterfahrung gut hätte verzichten können.

Was muss sich im Umgang mit dem Thema Sternenkinder in der Gesellschaft ändern?

Das Thema ist unbequem und man spricht nicht gerne darüber, aber es darf kein Tabuthema werden – dafür sind viel zu viele Menschen betroffen. Wir müssen offener darüber sprechen und Hilfsangebote sichtbarer machen. Davon profitieren betroffene Paare genauso wie Freunde und Angehörige, die sich in einer solchen Situation hilflos und überfordert fühlen.