#regrettingmotherhoodWenn das Muttersein einfach nicht glücklich macht
„Mein Kind? Ein Arschloch.“ Die australische Bloggerin Constance Hall begrüßte ihre Fans bei Facebook kürzlich mit einem Foto ihres Sohnes und schrieb dazu, dass sie keine Lust mehr habe, sich dauernd für sein Verhalten zu entschuldigen. Kein „Entschuldigung, er ist heute müde“ mehr, kein „Er hatte halt einen harten Tag“. Nein, sie wolle ab jetzt ehrlich sein: Er sei eben aktuell ein „Arschloch“.
Was dürfen Mütter – und was nicht?
Darf eine Mutter so etwas sagen? Die Fans der Bloggerin jubeln und liken ihren Beitrag. Endlich ist da mal Eine ehrlich und äußert, was viele sich nur hinter vorgehaltener Hand zu sagen trauen. Das Kind nervt. Würde sich eine deutsche Mutter das trauen? So über ihren Nachwuchs zu reden? Öffentlich? Auch wenn es witzig gemeint ist? „Es geht doch um die Kinder!“, werden die selbst ernannten Kritiker und Moralwächter jetzt rufen. Da verstehen wir Deutschen keinen Spaß. Mütter sollen gefälligst unfehlbar sein und ihre wahren Emotionen hinter dem Berg halten. Unsere Gesellschaft ist da streng.
„Die Mutterschaft in Deutschland ist eine ernste Angelegenheit“, sagt auch Sabrina Sailer, eine der zwei Autorinnen des Vereinbarkeitsblogs. Nachdem im letzten Jahr die Diskussion um bereuende Mütter hoch kochte, hat sie sich die Mühe gemacht, so gut wie alle Texte aus dem Netz in einer kommentierten Liste zusammenzufassen, die sich bis heute mit dem Phänomen #regrettingmotherhood auseinandergesetzt haben. Ihr Fazit: Es gibt kein schwarz oder weiß, keine einfachen Lösungen.
Das erkennt auch Esther Göbel in ihrem in dieser Woche erschienenen Buch „Die falsche Wahl – Wenn Frauen ihre Entscheidung für Kinder bereuen“. Die Autorin, selbst kinderlos, hatte im vergangenen Jahr mit einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung die Debatte angestoßen. Darin berichtete sie als Erste über die Studie der israelischen Wissenschaftlerin Orna Donath, die 23 Mütter zwischen 20 und 70 Jahren interviewt hatte, die sagten: Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden sie keine Kinder mehr bekommen.
Die Diskussion um #regrettingmotherhood traf einen Punkt, der neu war. „Der bestehenden Norm zufolge ist jede Frau eine Mutter. Und die ist angeblich niemals zweifelnd, sondern immer zufrieden“, schreibt Göbel in ihrem Vorwort. „Über die negativen Seiten dieser Rolle zu sprechen hatten meine Freundinnen nicht gelernt. Zu schwer wog der Druck von außen, zu sehr beäugten sie sich gegenseitig. Denn in der Wertung der öffentlichen Meinung ist die Frau, die Ambivalenz gegenüber ihren Kindern fühlt oder die es wagt, ihre eigene Entscheidung kritisch zu hinterfragen, unweiblich, egoistisch, fehlerhaft, unreif, karrieregeil, zu verkopft oder zu verwöhnt.“
Der Leistungsdruck hat die Mutterschaft erreicht
Sie beschreibt damit genau das, unter dem so viele Frauen leiden, ja, vor dem viele sogar kapitulieren. Vor der Gesellschaft, die vorzugeben scheint, wie eine Frau heute zu sein hat. Natürlich wird sie Mutter, natürlich stillt sie, natürlich wird sie nach der Geburt wieder gertenschlank, natürlich führt sie nach der Elternzeit ihre Karriere weiter wie bisher und backt in ihrer Freizeit noch vegane Krümelmonster-Muffins aus biologischen Zutaten.
Das Höher-weiter-besser-schneller unserer Leistungsgesellschaft hat auch die Mutterschaft erreicht. Gerade in Zeiten der Vereinbarkeit, in der die Mütter zeigen wollen, dass sie trotz Job noch gute Mütter sind. Denn Fürsorge ist doch ein Ausdruck von Liebe. Oder?
Wenn es so einfach wäre.
Es braucht mehr Ehrlichkeit, weniger Druck von außen
Es braucht mehr öffentliche Ehrlichkeit, mehr Unperfektheit. „Wir brauchen Stockfotos mit vollgekotzten Frauen, die versuchen zu telefonieren, während ein Kind an ihrem Bein hängt. Frauen die zeigen, dass niemand immer alles im Griff haben kann. Echte Vorbilder, nicht Scheinbilder“, sagt Sailer, die als Stillberaterin Frauen berät, von denen auch viele den Druck von außen spüren. Und welche Familie sich dem entzieht, fliegt raus aus dem sozialen Gefüge. Sailer erzählt: „Es gibt bei uns in der Gegend einige Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen, man glaubt gar nicht, was für einen Gegenwind die bekommen.“ Wer es anders macht, macht es falsch? Der Druck ist hoch.
Genau deswegen ist #regrettingmotherhood wohl so groß geworden. Weil die reale Familie nicht dem allgegenwärtigen Bild aus der Werbung oder den sozialen Medien entspricht. Auf Instagram, Pinterest, in Blogs werden aufgeräumte Wohnungen, gestylte Kinder, geschminkte Mütter gezeigt, die alles zu schaffen scheinen – und dabei auch noch lächeln.
Viele Frauen orientieren sich an diesem Bild. Warum? „Weil ihnen die echten Vorbilder fehlen“, sagt Sailer, „Familien leben heute zerstreut. „Es fehlen die Tanten, Eltern, Großeltern. Nicht nur als realistische Vorbilder, sondern auch, um sich gegenseitig zu unterstützen“, sagt Sailer.
An Vorbildern fehlte es auch Sofie, eine der drei Mütter, die Göbel in ihrem Buch porträtiert. Sofie ist 38, Sonderpädagogin und hat zwei Söhne, vier und sieben Jahre alt. Von Anfang an war da ein Distanzgefühl zu ihrem Sohn, das sie auch heute noch spürt. „Ich habe mich lange schuldig gefühlt, weil ich dieses bedingungslose Mutterglück, von dem immer alle sprachen, nicht fühle.“ Deswegen denkt sie, wäre sie ohne Kinder „besser dran gewesen.“
Die Entzauberung des Mythos der glücklichen Mutter
Was Sofie spürt, sind keine Ambivalenzen. Es ist Reue. Diese Trennung ist wichtig, denn es gab viele Missverständnisse in der #regrettingmotherhood-Debatte. Mütter mit ambivalenten Gefühlen haben manchmal einen schlechten Tag und sind danach wieder glücklich. Das unterscheidet sie von den bereuenden Müttern. Für sie sind die schwierigen Momente nicht punktuell da, sondern generell, sie begleiten sie durch ihren Alltag als brummendes Grundrauschen. Sie wollen das alles nicht. Das Fremdbestimmtsein, die Unfreiheit, die Verantwortung.
Ein Tabubruch, das öffentlich zu äußern. Es ruft Kritiker und Hater auf den Plan. Ihr Rabenmütter! Die armen Kinder! Dabei ist genau das eine Fehleinschätzung. Denn die Mütter bereuen nicht ihre Kinder. Sie bereuen ihre Mutterschaft.
Das Phänomen konnte deshalb so groß werden, weil es nicht um die Unmöglichkeit der Vereinbarkeit ging, nicht nur um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Frauen ihre Mutterschaft erschweren. Es geht um eine Norm, die hinterfragt wird. Es geht um die Entzauberung des Mythos der glücklichen Mutter.
Nicht umsonst wird Constance Hall für ihre ehrlichen Postings auch in Deutschland von immer mehr Müttern gefeiert. Oder Daniela Katzenberger, die ungeschminkte Fotos mit zerwuschelten Haaren bei Facebook postet und erzählt, wie schrecklich die letzte Nacht war und wie müde sie ist, weil die Tochter sie dauernd weckte. Das erleichtert viele Frauen. Es nimmt den Druck. Solche Vorbilder braucht es offenbar. Selbst wenn die ihr Kind mal „Arschloch“ nennen.