Psychologin erklärtWie wir vom Selbstkritiker zu unserem besten Freund werden
- Viele Menschen eifern einem Idealbild nach, das sich aus Erwartungen anderer zusammensetzt. Dahinter steckt meist: die Hoffnung auf Liebe und Anerkennung.
- Dr. Katharina Tempel beschäftigt sich mit Positiver Psychologe und weiß: Wir brauchen mehr Mitgefühl mit uns selbst.
- Im Interview verrät sie, wie das trotz vollem Terminkalender gelingen kann und warum das so wichtig ist.
Berlin – Viele Menschen sind selbst ihre größten Kritiker. Sie sind nicht zufrieden mit ihren Leistungen, finden sich nicht schön genug oder denken, sie müssten perfekter sein. Wie es sich auf das eigene Wohlbefinden auswirkt, was es mit der Psyche macht und wie stark die Auswirkungen auf das gesamte Leben sind, erklärt die Psychologin Dr. Katharina Tempel.
Mit ihrem Youtube-Kanal „Glücksdetektiv” und mit ihrem Buch „Gib dir die Liebe, die du verdienst” möchte sie Menschen dabei unterstützen, ihr eigenes Wohlbefinden zu steigern. Wie es gelingen kann, mit sich selbst besser umzugehen und warum es so wichtig ist, verrät die Psychologin im Interview.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Was wir Freunden niemals zumuten würden, tun wir uns selbst mit Leichtigkeit an.“ Warum sind wir uns selbst so viel kritischer als anderen Personen gegenüber?
Katharina Tempel: Das liegt an unserem Idealbild, also der Vorstellung davon, wie wir gerne sein möchten. Wir eifern diesem Idealbild nach und versuchen stets, es zu erreichen. Das Tragische ist, dass dieses Idealbild gar nicht von uns selbst stammt, sondern sich durch die Erwartungen und Aussagen anderer Menschen zusammensetzt, die wir früher ständig gehört haben.
Haben meine Eltern mir früher immer wieder suggeriert, dass die Note 1- nicht gut genug ist, entwickele ich den Anspruch, perfekt sein zu müssen. Dieser Anspruch wird mich auch im im Erwachsenenleben weiter begleiten und dazu führen, dass mir 90 Prozent nie gut genug vorkommen.
Hohe Ansprüche, der Wunsch nach Perfektion. Sind wir kritisch mit uns, weil wir nicht unzufrieden sein möchten?
Tempel: In erster Linie sind wir so kritisch mit uns, weil wir uns davon erhoffen, Liebe und Anerkennung zu bekommen. Es ist ein Lernprozess von früher. Wir haben von unseren Bezugspersonen gehört: „Streng dich mehr an!“ oder „Ohne Fleiß, kein Preis!“. Wir lernen, dass wir uns auf eine bestimmte Weise verhalten müssen, Leistungen erbringen müssen. Wir bilden daraus die Überzeugung, dass wir so sein müssen, um von anderen anerkannt und gemocht zu werden. Deshalb glauben wir als Erwachsener noch, wenn wir es endlich schaffen schön, perfekt oder leistungsfähig zu sein, sind wir wertvolle Menschen und werden geliebt. Schaffen wir es hingegen nicht, haben wir diese Liebe auch nicht verdient.
Sie sprechen auf Ihrem Blog davon, dass man mehr Mitgefühl mit sich selbst haben sollte. Was ist genau damit gemeint?
Tempel: Das ist im Grunde eine achtsame und freundliche Haltung uns selbst gegenüber – vor allem im Bezug auf unsere Schwächen, Misserfolge und Fehler. Dass wir auf unsere Bedürfnisse hören, statt uns immer sofort zu bewerten. Achtsamkeit bedeutet, dass wir uns etwas anschauen und es annehmen, ohne es sofort zu bewerten. Der dritte Aspekt des Selbstmitgefühls ist das Gefühl, mit anderen verbunden zu sein. Sich bewusst zu machen, dass es auch andere Menschen gibt, die meine Erfahrungen und Emotionen teilen.
Auf Ihrem Blog schreiben Sie, dass Sie früher eher pessimistisch waren und Sie sich nun besser behandeln, glücklicher und zufriedener sind. Wie sind Sie zu diesem Schritt gekommen?
Tempel: Ich habe gelernt, dass es möglich ist, glücklicher zu leben und dass es viel mit positiven Gewohnheiten zu tun hat. Die können wir trainieren. Menschen neigen dazu, schnell alles schwarz zu sehen. Das ist mir dann auch bei mir aufgefallen und ich habe gesehen, wie ich davon wegkommen kann: Indem ich den Blick auf das Positive lenke.
Diese negative Verzerrung haben wir evolutionsbedingt in uns; wir nehmen Negatives stärker wahr und speichern es schneller ab. Wer dagegen steuern möchte, muss immer wieder schauen, was es Gutes gibt. Das ist kein Schönreden, sondern stellt einfach die Balance zwischen Positivem und Negativem wieder her.
Warum sollte man sich so viel mit sich selbst beschäftigen? Viele Menschen denken, sie könnten ihre Zeit sinnvoller nutzen oder empfinden es als egoistisch.
Tempel: Wie wichtig Selbstfürsorge für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität ist, ist für uns nicht direkt ersichtlich. Wir alle haben begrenzte Zeit und stellen uns Fragen wie: „Lege ich mich jetzt auf das Sofa oder mache ich lieber den Abwasch?“ Wer sich immer dafür entscheidet, den Abwasch zu machen und nie dafür, sich auf das Sofa zu legen, der hat irgendwann ein Problem.
Das ist leider oft der Punkt, an dem Menschen merken, dass sie sich völlig verausgabt haben, erschöpft sind und feststellen, dass sie sich mehr um sich selbst hätten kümmern müssen. Doch dann sind sie bereits ausgebrannt, womöglich depressiv, empfinden keine Freude mehr am Leben und alles kommt ihnen sinnlos vor. Sich um sich selbst zu sorgen, ist absolut essentiell – nur so können wir die Herausforderungen in unserem Leben meistern.
Selbstfürsorge macht uns also standhafter.
Tempel: Selbstfürsorge ist eine Grundhaltung, mit sich selbst umzugehen – einen freundlichen und respektvollen Umgang mit sich selbst zu pflegen. Es geht um das Spüren der eigenen Bedürfnisse. Wenn man das macht, sorgt man dafür, dass man diese Bedürfnisse besser befriedigen kann, gute Beziehungen zu seinen Mitmenschen führt und somit wichtige Ressourcen bildet, um mit allem, was das Leben einem in den Weg wirft, umgehen zu können.
Wie wirkt es sich auf meine Seele aus, wenn ich mit mir immer hart ins Gericht gehe?
Tempel: Ganz schlimm. Wir zeigen uns dadurch, dass wir nicht gut genug sind. Wenn wir uns abwerten, uns einreden Versager zu sein, dumm zu sein und dass uns niemand je lieben wird, bleibt das nicht folgenlos. Unser Selbstwertgefühl sinkt. Das Selbstbild wird immer negativer, Stimmung und Wohlbefinden sinken in den Keller.
Doch da hört es nicht auf: Wenn ich ein negatives Selbstbild habe, macht mich das angreifbarer für Ausnutzung oder lässt mich in Beziehungen bleiben, die mir nicht gut tun. Schließlich denke ich, dass ich es nicht besser verdient habe und froh sein kann, wenn jemand mit mir zusammen sein will. Das geht so weit, dass man sich auch beruflich keine Ziele setzt oder Chancen ergreift, weil man denkt, dass man es sowieso nicht schaffen würde.
Aus diesem Verhalten kann ein regelrechter Teufelskreis entstehen, da das Ausbleiben der Erfolge dann wieder als Beweis für die eigene Fehlerhaftigkeit angesehen wird.
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Schaut man sich so manchen Social-Media-Account an, denkt man schnell, dass man nie negative Gedanken haben dürfte.
Tempel: Das ist natürlich kontraproduktiv, denn dadurch kann sich ein regelrechter Zwang entwickeln. Ich bemerke, dass es bei vielen Menschen falsch ankommt. Sie denken, glücklich zu sein würde bedeuten, immer glücklich sein zu müssen. Dann kann schnell der Eindruck entstehen zu versagen, wenn ein negativer Gedanke aufkommt.
Das ist fatal für das eigene Wohlbefinden – kein Mensch kann immer glücklich sein. Unser Leben besteht aus positiven und negativen Erfahrungen, die wichtig für uns sind. Es geht nicht darum, eins zu unterdrücken. In meiner Arbeit als Glücksdetektiv ist mein Ziel daher auch nicht fortwährende Glückszustände hervorzurufen, sondern Menschen zu stärken, damit sie sich ein Leben aufbauen können, in dem sie aufblühen.
Zum Ende des Jahres nehmen sich viele Menschen vor, ihre Gewohnheiten zu ändern. Welche Tipps haben Sie, wie man mit der Selbstfürsorge auch bei wenig Zeit beginnen kann?
Tempel: Ein Anfang kann es sein, Zeit für sich zu blocken. Mancher hat vielleicht zehn Minuten am Tag, der andere nur eine Stunde am Wochenende. Wer denkt, er habe keine Zeit, sollte schauen, wann er Zeit mit Fernsehen, Social Media oder Online-Shopping vertrödelt. Diese Zeit können wir besser für das eigene Wohlbefinden nutzen.
Was eine gute Möglichkeit ist, sind Morgen- oder Abendroutinen. Morgenmenschen können zum Beispiel 15 Minuten eher aufstehen oder man kann am Abend 15 Minuten Tagebuch schreiben, reflektieren, entspannen, sich pflegen oder einem Hobby nachgehen. Das alles kann helfen, mit sich in Kontakt zu kommen.
Gute Vorsätze halten wir aber oft nicht ein. Wie können wir in solchen Situationen selbstfürsorglich mit uns umgehen?
Tempel: Ich würde das schon in die Planung mit rein nehmen: Der Vorsatz jeden Abend Tagebuch zu schreiben, ist zum Beispiel zu ambitioniert. Denn es wird oft nicht klappen. Es ist gut sich von Anfang an zu erlauben, dass es zum Beispiel zwei Mal die Woche schief gehen darf.
Frau Tempel, vielen Dank für das Gespräch.
Zum Weiterlesen: Dr. Katharina Tempel: „Gib dir die Liebe, die du verdienst”, Gräfe und Unzer Verlag, ISBN: 978-3833870415, 16,99 Euro