Das Lipödem verursacht oft unerträgliche Schmerzen. Bundesweit erstmalig gibt es nun eine Schmerzsprechstunde an der Uniklinik Köln für Betroffene.
Schmerzen durch Lipödem„Ich konnte irgendwann nicht einmal mehr schlafen, weil alles weh tat“
Es gab eine Zeit, da stand Claudia Effertz am Fuß einer Treppe und brach in Tränen aus, ihr Blick hektisch wandernd zwischen ihren Beinen da unten und dem Ziel ganz da oben. Ein Stockwerk erklimmen, vielleicht sogar drei oder vier – diese Aufgabe ließ sie in Panik geraten. „Ich habe einfach immer angefangen zu weinen, aus Angst vor dem Schmerz.“ Auch heute machen ihr Stufen noch manchmal Angst. Zu tief hat sich der Schmerz beim Treppensteigen in ihrem Gedächtnis verankert.
Claudia Effertz ist 55 Jahre alt und leidet am Lipödem. Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch eine lokalisierte Fettverteilungsstörung an Beinen und Armen. Es tritt stets symmetrisch auf. Füße und Hände sind nie betroffen. Die Ursache liegt in einer Vermehrung des Unterhautfettgewebes, ein Phänomen, das auf die Extremitäten beschränkt bleibt, weshalb es zu einem Missverhältnis zwischen schlankem Rumpf und dicken, so genannten Säulenbeinen kommt, was psychisch als häufig besonders belastend empfunden wird. Viele Frauen entwickeln im Verlauf zusätzlich Adipositas. Zahlreiche Betroffene bleiben aber auch schlank.
Ein wichtiges Merkmal für Lipödem ist der Schmerz. Denn die Beine und Arme sind nicht einfach nur dick, sondern verursachen zum Teil quälende Beschwerden. Manche Patientinnen können keine Stiefel mehr tragen, andere ihr Kind nicht mehr auf den Schoß nehmen. „Ich konnte irgendwann nicht einmal mehr schlafen, weil alles weh tat und musste auch nachts Kompressionswäsche tragen“, sagt Effertz.
Bundesweit erstmalig Schmerzsprechstunde für Lipödem-Patientinnen
Ab dem 6. März bietet die Uniklinik Köln bundesweit erstmals eine Schmerzsprechstunde für Lipödem-Patientinnen an. Bislang wurde das Lipödem kaum von schmerztherapeutischen Spezialisten betreut. Vanessa Löw, Ärztliche Leiterin des Schmerzzentrums an der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik, sagt: „Die schmerztherapeutischen Möglichkeiten von schmerzhemmenden Medikamenten bis hin zu Unterstützung der Psyche sind noch lange nicht ausgeschöpft.“ Zunächst müsse der Schmerz als direktes sensorisches Ereignis ernst genommen werden. Erst in einem späteren Schritt geht es auch um den Umgang mit demselben: „Es ist immer wichtig, den Schmerz zu akzeptieren, ohne dass man sich unterkriegen lässt. Es ist eher so, dass Betroffene sich vorstellen sollten, der Schmerz ist zwar immer dabei, aber nur hinten im Kofferraum.“
Frauen wie Claudia Effertz, denn die Krankheit betrifft nahezu ausschließlich das weibliche Geschlecht, leiden seit Jahren oder Jahrzehnten. Effertz kann sich erinnern, dass ihre Beine schon in der Pubertät brannten, wenn sie lange stand, zum richtigen Krankheitsausbruch kam es aber erst, als Effertz mit 30 Jahren zum ersten Mal schwanger wurde. Schweregefühl, Druckschmerzen, Krämpfe, Schmerzen, so stark, dass sie die Arme nicht mehr anheben konnte, zählt Effertz auf. Jahrelang. Dennoch erhielt sie von Ärzten erstmal nur Schulterzucken und den Rat, sich mehr zu bewegen.
Innerhalb von 15 Jahren hat Effertz ihr Gewicht verdoppelt. Von 70 auf 140 Kilogramm
Effertz litt, Effertz schwieg, Effertz zog sich zurück. Zu sehr schämte sie sich für die fortschreitende Gewichtszunahme. „Ich habe mich innerhalb von 15 Jahren verdoppelt.“ Von 70 auf 140 Kilogramm. Stand ein Kundentermin in Präsenz an, denn Effertz arbeitet als Coach und Unternehmensberaterin, kündigte die heute 55-Jährige gar manchmal den Beratervertrag. „Ich konnte mich unmöglich da blicken lassen, wo die mich doch noch als 30 Kilogramm leichtere Frau abgespeichert hatten.“ Aber auch die Schmerzen schränkten ihre Aktivitäten zunehmend ein. „Ich bin mit meiner Tochter nicht mehr ins Schwimmbad gegangen, ich besuchte keine Restaurants, ich vermied wo immer es ging, das Haus zu verlassen“, sagt sie.
Effertz Leidensweg hatte schon viele schlimme Täler durchschritten, als die Forschung langsam hinterherhinkte. „Die Krankheit, die man immerhin bereits vor 80 Jahren entdeckte, ist unzureichend erforscht. Entsprechend wenige und zumeist unzureichende Therapieansätze stehen zur Verfügung“, sagt Tim Hucho, Professor für Translationale Schmerzforschung an der Uniklinik Köln. „Dass der Schmerzaspekt bei Lipödem zentral ist, rückt erst seit kurzem in den Fokus.“ Hucho versucht, die Erkrankung in der Forschungsgemeinschaft bekannter zu machen. „Auch mir war Lipödemschmerz bis vor kurzem unbekannt. Wäre nicht der sich stark für Lipödem engagierende Lymphologe Manuel Cornely vor meiner Türe gestanden, hätte ich vermutlich nie davon erfahren.“ Hucho beantragte Drittmittel und konnte tatsächlich nachweisen, dass die Schmerzschwelle bei Lipödem-Patientinnen bei Druck auf die Extremitäten sehr niedrig ist. Das könnte die Basis für einen allerersten Test auf Lipödem darstellen.
„Stell dich nicht so an, du bist selbst schuld, weil du so dick bist“
„Das war für uns eine riesige Erleichterung, weil wir uns endlich ernst genommen fühlten. Keine Psychos, sondern Menschen, die nachweislich Schmerzen haben und deshalb auch Schmerzen haben dürfen“, sagt Effertz, die auch Vorstandsmitglied der Lipödem-Gesellschaft ist. Im Vordergrund des Vereins stehen die Bedürfnisse und die Versorgung der Betroffenen im Sinne der Selbsthilfe, die durch die Schnittstellen der Fachanwälte, Fachärzte und politischen Akteure ergänzt werden. Schuldzuweisende Mantren wie „Stell dich nicht so an, du bist selbst schuld, weil du so dick bist“ können nun in der Schublade verschwinden.
Claudia Effertz hat sich in mehreren Eingriffen 55 Liter Fett absaugen lassen. Das Problem: Nur in sehr fortgeschrittenen Stadien übernimmt die Krankenkasse die Kosten im mittleren vierstelligen Bereich - und das auch nur vorläufig noch bis zum Ende dieses Jahres, da Wirksamkeitsstudien noch ausstehen. Zwei Drittel der Patientinnen verschulden sich nach Effertz‘ Aussage aus diesem Grund.
Arme und Beine von Kompressionen zusammengedrückt
Wer das Geld nicht aufbringen kann, dem bleibt nur der konservative Ansatz. Arme und Beine müssen dann zum Teil Tag und Nacht von Kompressionen zusammengedrückt werden. „Was das für die Haut, die Psyche, aber auch das Sexleben bedeutet, muss ich nicht erklären.“ Claudia Effertz kämpfte mit der Krankenkasse für ein Kompressionsgerät. Schon um vier Uhr morgens legt sie sich in das Gerät, um vor dem Start in den Tag ihre Lymphe zu entlasten. Dazu probiert sie viel aus in Punkto Ernährung. Eine Zeitlang lebte sie vegan, heute glaubt sie, dass eine ketogene Ernährung mit sehr wenigen Kohlenhydrate ihre Schmerzen im Zaum hält.
Schmerz im Allgemeinen, einerseits zentrales Thema der Medizin seit den Anfängen der Heilkunde, stellt die Forscher andererseits noch immer häufig vor Rätsel. Erst Ende der 90er Jahre entdeckten der Sinnesphysiologe David Julius und der Molekularbiologe Ardem Patapoutian lange unbekannte „Schmerzsensoren“. Seitdem explodiert zwar das Wissen um Schmerzmechanismen. Doch der Weg in die Anwendung ist steinig. Entzündungshemmer wie Aspirin oder leichte Opioide funktionieren laut Löw sehr gut bei akuten Schmerzen. Die Therapie von langanhaltenden Schmerzen ist jedoch noch immer mit sehr viel Ausprobieren verbunden und häufig nicht vollständig befriedigend. Tim Hucho beschreibt Schmerz als einen häufig durch Druck, Hitze, Kälte oder körpereigene Prozesse wie zum Beispiel Entzündungen ausgelösten Vorgang: „Aber die Entstehung und das Erleben von Schmerz hängt auch immer zusammen mit der Verarbeitung dieser Reize im Gehirn“.
Den Schmerzpegel durch Einstellung und Verhalten runterdrehen
Vanessa Löw vom Schmerzzentrum erzählt von einer Studie, in welcher Probanden die Hände möglichst lange in Eiswasser tauchen mussten. Allein das Label „Wellnessstudie“ bewirkte, dass Teilnehmer überdurchschnittlich lange keinen Schmerz empfanden, während diejenigen, die glaubten bei einer „Durchblutungsstudie“ mitzumachen, ihre Hände schnell vor Schmerz zurückzogen, da sie fürchteten, der Kälteschmerz kündige Gefahr für das Herz-Kreislauf-System an.
Und hier kommt Helene Hucho ins Spiel, sie ist Trainerin und Coach und arbeitet mit Methoden wie der Prozess- und Embodimentfokussierten Psychologie (kurz PEP) des Psychotherapeuten Michael Bohne. „Wir machen den Schmerz nicht weg, wir können die reine Sensorik des Schmerzes nicht verändern. Wir können jedoch Methoden vermitteln, die den Schmerzpegel durch Emotionsregulation und Veränderung der Bewertung runterdrehen, wenn es akut schlimm ist. Außerdem können wir an den belastenden Gefühlen arbeiten, die mit der Erkrankung verbunden sind. Beides zahlt auf das Selbstwirksamkeitserleben der Betroffenen ein“, sagt Helene Hucho. Patientinnen kann dadurch das Gefühl der Ohnmacht genommen werden. Denn: „Sie können aktiv etwas tun.“ Beispielsweise durch Klopfttechniken und Selbststärkungsaffirmationen. Dadurch werde zudem die körpereigene Apotheke aktiviert.
Claudia Effertz Glücksbringer ist derzeit das Aquajogging mehrmals in der Woche. Ins Wasser schafft sie es zwar nur, wenn sie vorher eine Dosis Schmerzmittel eingeworfen hat. „Aber mittlerweile weiß ich: Nach 45 Minuten Sport wird der Schalter in meinem Körper umgelegt. Dann wird der Schmerz gelindert.“
Welche Symptome sprechen für ein Lipödem?
- Beidseitig dicke Beine oder Arme
- Spontane drückende und stechende Schmerzen an Armen und Beinen, Drucksensibilität
- Schweregefühl in Beinen oder Armen
- Füße und Hände sind nicht betroffen
- Proportionen erscheinen unverhältnismäßig, da der Rumpf meist schlank bleibt
- Neigung zu blaue Flecken an den Extremitäten
Zur Lipödem-Schmerzsprechstunde ab 6. März kann man sich anmelden unter lipoedemschmerz@uk-koeln.de