AboAbonnieren

Ausruhen oder durchhaltenDauernd erschöpft nach Corona – wie geht man damit um?

Lesezeit 6 Minuten
Neuer Inhalt

Nach einer Corona-Infektion sind für manche Menschen selbst fernsehen oder lesen zu anstrengend. 

Berlin/Wiesbaden – Wenn man nach dem Besuch im Supermarkt oder dem Staubsaugen der Wohnung fix und fertig ist: Ein Teil der Long-Covid-Betroffenen wird im Alltag von einer starken Erschöpfung begleitet, die auch als Fatigue bezeichnet wird. Was vor der Corona-Infektion problemlos ging, geht jetzt nicht mehr. Das frustriert und stellt eine große Frage in den Raum: Wie gestalte ich mit so wenig Akku-Ladung nun mein Leben?

Bei Belastung verschlimmern sich Symptome

Erschöpfung ist nicht gleich Erschöpfung. Darauf weist Prof. Carmen Scheibenbogen hin, die das Charité Fatigue Centrum in Berlin leitet. Sie beschäftigt sich dort vor allem mit ME/CFS, also dem Chronischen Erschöpfungssyndrom. Ein Merkmal dieser komplexen Erkrankung: „Schon leichte Alltagsbelastung kann die Fatigue, aber auch die Schmerzen, langanhaltend verschlimmern. Versucht man, das normale Alltagspensum fortzuführen, kann es mit der Zeit schlechter und schlechter gehen“, sagt Scheibenbogen. Dieses Phänomen wird Post-Exertionelle Malaise (PEM) genannt und kommt auch bei einem Teil der Long-Covid-Betroffenen vor.

Die Erschöpfung ist es bei Long Covid in aller Regel nicht allein: „Luftnot, Muskelschmerzen, Herzrasen - auch diese Symptome können sich verschlimmern, wenn man sich überlastet“, sagt Prof. Martina Lukas, Chefärztin der Inneren Medizin II der DKD Helios Klinik in Wiesbaden. Während es also bei normaler Erschöpfung oft hilfreich ist, etwas Sport zu machen, kann eine solche Anstrengung bei PEM fatal sein. Es kann sein, dass es danach zu einem schweren Zusammenbruch kommt, so Scheibenbogen. Dann geht erstmal gar nichts mehr.

Das Tempo des Alltags unter Kontrolle haben

All das zeigt: Zähne zusammenbeißen und weitermachen, als wäre die Erschöpfung nicht da, ist für Long-Covid-Betroffene die schlechteste Lösung. Besser ist es, eine Pacing-Strategie zu entwickeln. Der Begriff leitet sich vom englischen Wort pace für Geschwindigkeit ab. Und genau darum geht es: das Tempo des Alltags unter Kontrolle zu haben und auf die Bremse zu treten, wenn die Anstrengung zu groß wird. „Pacing heißt, schonend mit den eigenen Ressourcen umzugehen und zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen“, sagt Martina Lukas, die auch in der Long-Covid-Ambulanz ihrer Klinik tätig ist. Pacing kann zwar die Beschwerden nicht heilen, es schafft jedoch mehr Lebensqualität, weil es Betroffenen dadurch im Alltag besser geht.

Es ist schwierig, den eigenen Akkustand einzusehen

Zwar ist eine Pacing-Strategie eine ganz individuelle Angelegenheit, am Anfang steht aber stets dieselbe Frage: Wie viel Energie habe ich? Das ist gar nicht einfach zu beantworten, denn Energie klingt für viele erst einmal abstrakt. Während wir bei einem Smartphone den Akkustand direkt einsehen können, ist es deutlich kniffeliger, die Belastbarkeit von Körper und Kopf einzuschätzen. Es gibt aber einen Trick: „Man kann sich vorstellen, dass man für jeden Tag einen Sack mit Energieperlen zur Verfügung hat“, sagt Lukas. „Jede Aktivität kostet eine Energieperle - das Ausräumen des Geschirrspülers, die Runde mit dem Hund, das Kochen des Mittagessens.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Allerdings sind es nicht nur vermeintlich produktive Dinge wie Arbeit oder Haushalt, die Energie aufbrauchen. Auch Fernsehen oder Lesen können - gerade auf kognitiver Ebene - zu anstrengend sein, so Carmen Scheibenbogen. Diese Tätigkeiten sollte man beim Ausarbeiten einer Pacing-Strategie also auch berücksichtigen.

Sich besser nicht am früheren Ich messen

Wer dafür sorgt, dass am Ende des Tages noch etwas Energie im Sack übrig bleibt, hat gute Chancen, einem Zusammenbruch - in der Fachsprache Crash genannt - vorzubeugen. Es kann dauern, bis man das optimale Pensum gefunden hat und diese Grenze im Alltag auch einhält. „Das ist schon eine Herausforderung, für die es viel Disziplin braucht“, sagt Scheibenbogen.

Ein Tagebuch kann den Prozess hin zu einer Pacing-Strategie begleiten. Dort dokumentiert man all die Aktivitäten, die den Tag gefüllt haben: ein halber Tag im Büro, der Gang zur Post, ein Anruf bei der Ärztin. „Stellt man dann fest, dass es einem heute schlecht geht, blättert man eine Seite zurück und kann nachvollziehen, woran es liegen könnte“, sagt Lukas. Apropos Vergangenheit: An der Energie, die man früher zur Verfügung hatte, sollte man sich besser nicht messen. Martina Lukas berichtet von einem jungen, sportlichen Patienten, für den nach seiner Covid-Infektion nur ein Spaziergang von einer Viertelstunde drin war.

Eben weil die Energie begrenzt ist, ist es unverzichtbar, Prioritäten zu setzen. So wie man sich den knappen Rest-Akku des Smartphones eher für ein wichtiges Telefonat aufhebt, sollte man auch im Alltag schauen: Was muss unbedingt noch gemacht werden? Und: Was kann ich liegenlassen, verschieben oder delegieren?

Dosensuppen und ungeputzte Fenster sind auch okay

Entlastend kann es da sein, die Ansprüche an sich selbst anzupassen. Ganz nach dem Motto: Es ist okay, dass die Fenster nicht geputzt sind. Oder wenn es eine Dosensuppe statt eines frisch gekochten Mittagsessens gibt - einfach, weil die Energie an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt war. Ratsam ist auch, die Aufgaben aufzuteilen. Plant man einen Spaziergang, ist vielleicht nicht der richtige Tag, um noch den Staubsauger hervorzuholen, so Lukas. Große Aufgaben wie den Wohnungsputz zerlegt man am besten in kleine Einheiten und teilt sie sich auf verschiedene Tage auf.

Nicht immer muss man sich stur an diesen Plan halten: „Es gibt stets bessere und schlechtere Tage, man sollte daher auch die Tagesform im Blick haben“, sagt Scheibenbogen. An Tagen, an denen weniger möglich ist, ist es geboten, einen Gang runterzuschalten - und Aufgaben auch mal liegenzulassen.

Fordern, aber nicht überfordern

Allerdings: Sich generell gar nicht mehr zu fordern, ist auch nicht die Lösung. Darauf weist auch Scheibenbogen hin: „Es ist wichtig, aktiv zu bleiben.“ Aber eben nur in dem Rahmen, in dem es mit Blick auf die eigene Energie möglich ist. Und wenn es mit der Pacing-Strategie gut läuft? Dann kann man die Belastung behutsam steigern, langsam und in kleinen Schritten. Fordern, aber nicht überfordern, ist hier das Motto.

All das sind Bausteine, aus denen Pacing bestehen kann. Wenn sie eine solche Strategie in ihrem Alltag etablieren, stellen viele Betroffene jedoch fest: Nicht alle Menschen im Umfeld haben Verständnis dafür, dass sie das Leben nun so stark am eigenen Akkustand ausrichten. „Schließlich leben wir in einer Leistungsgesellschaft, in der es oft heißt: Nun beiß' doch einfach die Zähne zusammen und zieh das durch“, sagt Lukas. Auch gut gemeinte Ratschläge oder Sätze wie „Du siehst aber gar nicht krank aus“, sind für viele Betroffene belastend. Hier hilft, Aufklärung im Umfeld zu leisten und trotz allem Widerstand an der Pacing-Strategie festzuhalten.

Denn: Pacing ermöglicht es den Betroffenen, besser durch den Alltag zu kommen. Es ist allerdings nur ein Teil in der Behandlung von Long Covid. Ebenfalls wichtig ist, dass Betroffene auch in Rücksprache mit ihren Ärztinnen und Ärzten schauen, wie sie sich möglichst erholsamen Schlaf verschaffen können.

Zudem zählt auch eine gute Schmerztherapie, „denn auch Schmerzen rauben Energie“, sagt Lukas. Und viele Fatigue-Patientinnen und -Patienten wissen nur zu gut: Jede Energieperle ist kostbar. (dpa/tmn)