Buch Moral PhobiaWie wir alle zu Bio-Biedermeiern mutieren
„Kochen ist das neue Ausgehen. Gärtnern statt Alkohol. Wandern statt Sex. Good is the new bad.“ Unsere Gesellschaft ist zu einer Masse aus Bio-Biedermeiern, Saubermännern und Super-Optimierern mutiert - das finden zumindest die Herausgeberinnen des Buches „Moral Phobia“, Judith Mair und Bitten Stetter: „Moral Phobia ist (in einem Satz): ein ABC über das populäre Ich- und Weltverbesserungsvokabular des selbstoptimierten, schwarz-grünen Bio-Bürgertums“, wie sie im Vorwort des Buches schreiben. Doch eigentlich ist es noch mehr.
Die Bio-Äpfel vom Streetfood-Festival als Trophäe im Jutesack
Das Zeitgeist-Glossar mit 566 Einträgen, von „Agavendicksaft“ über „Dress Down“ bis zum „Zen Bootcamp“, für das neben den Trendforscherinnen Mair und Stetter unter anderem auch die Autorinnen Sibylle Berg und Barbara Vinken Texte verfassten, sagt mehr über uns aus, als wir wahrhaben wollen. Fast jeder wird sich an der ein oder anderen Stelle wiederfinden.
Schon mal diese leichte Selbstgefälligkeit gespürt, nach einem Kauf von drei Bio-Äpfeln beim Street-Food-Festival, die im Jutesack wie eine Trophäe nach Hause getragen wurden, während die Aldi-Plastiktüte mit dem „Enthält-bestimmt-ein-Euro-Hackfleisch-Blick“ misstrauisch beäugt wurde? Schon mal einen „Veggie Burger“ in einem „Shabby Chic“-Restaurant bestellt und allen anderen am Tisch erklärt, warum Fleischesser die Welt zerstören? Schon mal via Fitness-Tracker die persönliche Bestlaufzeit auf Facebook gepostet? Schon mal ein Beet bepflanzt und statt vom Schrebergarten lieber von „Urban Gardening“ gesprochen? Schon mal die Yoga-Matte demonstrativ neben dem Schreibtisch im Büro postiert?
Die Karma-Kapitalisten schwingen die grüne Moralkeule
Natürlich kann man argumentieren, dass die als Lexikonartikel vorgestellten Phänome auf eine bestimmte Elite, auf ein paar Prozent der Bevölkerung zutreffen, eben auf die „Bionaden-Biedermeier“, die Henning Sußebach 2007 im „Zeit Magazin“ beschrieb und die sich inzwischen von Berlin-Prenzlauer Berg aus in jede vermeintlich authentische Ecke, jedes gentrifizierte Viertel, vorgearbeitet haben. Trotzdem: Diese Elite ist gesellschaftlich gesehen wohl die dominanteste, ihre Forderungen - Veggie Day, Zuckersteuer und Helmpflicht - sind zum Mainstream geworden.
Die „Wohlstandsasketen“ sind laut „Moral Phobia“ auf dem Vormarsch. Ihr Credo: Wer das meiste hat, viel darf und alles kann, sollte sich so weit wie möglich beschränken, disziplinieren, optimieren. Zwischendurch „entschleunigt“ man, ist „ganz bei sich“ und lebt besonders „achtsam“. Die „Karma-Kapitalisten“ schwingen, wie das Buch immer wieder suggeriert, die grüne Moralkeule über den Köpfen derer, die sich „Eco Chic“, „Green Fashion“, „ChariTea“ und „Veganes Wohnen“ nicht leisten können - oder es eben einfach nicht wollen.
Alles in Maßen, vernünftig, schön, sicher und sauber
„Wir wissen nicht, wie es euch geht, aber uns gehen die kommerziell befeuerten Moral-Appelle auf die Nerven“, schreiben Mair und Stetter, „und die photogeshopten Heile-Welt-Kulissen ermüden uns: kein Bier mehr in der U-Bahn, Helme für Radfahrer, bitte nicht rauchen, gesund essen - am besten vegan und bio sowieso. Alles in Maßen, vernünftig, schön, sicher und sauber.“
Natürlich ist auch diese Befindlichkeit der Herausgeber nur ein - ebenfalls ein Stichwort im Glossar - „First-World-Problem“ - aber eben ein ziemlich großes. Auf der Suche nach Authentizität, laut Mair „eine der Lieblingsvokabeln in unserer Gesellschaft“, produzieren wir den „Shabby Chic“, den „Favela Style“ oder kreieren „Street Credibility“ - und sorgen so dafür, dass immer mehr inszenierte Authentizität entsteht.
Superfoods für alle Super-Optimierten, Weltvermesser und -verbesserer
Hinzu kommt: Weltverbesserer sind Weltvermesser - oder umgekehrt. Damit die schöne heile Öko-Welt auch so bleibt, wollen wir alles beobachten, kontrollieren und vermessen via „Personal Sleep Manager“, „Activity Tracker“ und „Fitness Apps“ - dabei ist die Vermessung der Welt nie zu Ende.
Damit wir in die „Skinny Jeans“ in Größe „Size Zero“ passen, gibt es für uns Super-Optimierte inzwischen auch „Superfoods“ mit Superkräften, etwa „Acerola“, „Chia-Samen“ oder „Kale“ (auch unter dem Namen Grünkohl bekannt), die sich insbesondere dadurch vom gemeinen Gemüse absetzen, dass es sie eben nicht bei jedem Supermarkt an der Ecke, sondern nur in diesem einen veganen Bio-Markt am anderen Ende der Stadt oder in irgendeinem abgelegenen Hofladen in der Uckermark gibt.
Können Luxus-Lastenräder und Achtsamkeitsseminare die Lösung sein?
Unser Liebling „Political Correctness“ gilt nicht für diejenigen, die an ihrem nonkonformistischen Dasein etwas ändern könnten: Wer dick ist, wird geächtet, wer raucht, auch. Wer sich eben offensichtlich nicht ständig selbst optimiert, der kann auch nicht die Welt verbessern, so die - fatale - Schlussfolgerung. „Wir finden eine Welt ohne pestizidverseuchte Äpfel, Klimaerwärmung und Massentierhaltung auch klasse“, schreiben Mair und Stetter.
„Die Frage ist nur, ob Achtsamkeitsseminare in veganen Naturholzhütten, in Handarbeit erstellte Luxus-Lastenräder und lokale Street-Food-Märkte tatsächlich die Lösung sind.“ Ihr Zeitgeist-Glossar von „Bikini Bridge“ über „Clean Eating“ bis zur „Zeitverschwendung“ lässt zumindest daran zweifeln.
„Wir haben nichts gegen Veggie-Burger und Yoga-Lehrerinnen“
„Wir haben nichts gegen Veggie-Burger und Yoga-Lehrerinnen, aber es ist doch schon alles ziemlich ähnlich, oder?“, finden Mair und Stetter. „Und wenn es immer genormter und konformer wird, wo bleibt dann das Andere und Abwegige, das Unsichere und Unkalkulierbare, die Vielfalt?“
Sie sehen ihr Buch auch als „Plädoyer für die verständnislosen, undisziplinierten Nichtoptimierten, die nicht die geringste Lust haben, immer dünner, schöner, vernünftiger und gesünder zu werden.“