Burn-on statt Burn-outWenn total erschöpfte Menschen einfach immer weiter machen
Köln – Viele Menschen sind am Limit und arbeiten trotzdem wie besessen. Total erschöpft zu sein, gehört zum guten Ton. Auch in der Freizeit. Anstatt sich auszuruhen, wird immer weiter gepowert. Nicht weil man muss, sondern weil man will. Dieser Dauerzustand zwischen Erschöpfung und Leistungsbereitschaft führt irgendwann zu einer großen emotionalen Leere und Abgestumpftheit. Für dieses Gefühl gibt es nun eine neue Bezeichnung: Burn-on. Immer weiter brennen.
In Kürze ist das Burn-on-Syndrom ein Zustand zwischen Erschöpfung und ungebrochener Leistungsbereitschaft. Diese Zerrissenheit zwischen ausgelaugt und angetrieben sein führt auf Dauer dazu, dass einem nichts mehr wirklich Freude macht und man sich fühlt wie im Tunnel. Angehörige und Freunde beschreiben einen als nicht mehr richtig zugänglich und nicht mehr richtig anwesend. Körperliche Symptome können Bluthochdruck, Schwindel, Herzrasen, Angespanntheit und Kopfschmerzen sein. Ähnliche Merkmale sind auch vom Burn-out bekannt. Doch anders als beim Burn-out brechen Burn-on-Betroffene nicht zusammen und fallen auch nicht monatelang aus. Sie machen einfach immer weiter und verglühen dabei langsam.
Im Burn-on vereinen sich höchste Leistungsbereitschaft und ultimative Erschöpfung
Den Begriff Burn-on haben Bert te Wildt und Timo Schiele geprägt. Seit vier Jahren bauen sie im Kloster Dießen am Ammersee in Bayern eine Psychosomatische Klinik auf, die auf Internetsucht, Traumata, Essstörungen und stressbedingte Erkrankungen spezialisiert ist. Hierher kommen Menschen, die sich nicht mehr richtig leistungsfähig fühlen, aber gerne wieder so arbeiten möchten wie früher. Menschen, die traurig und abgeschlagen sind, die zu viel trinken oder exzessiv Sport machen, oft so viel, dass sie sich Ermüdungsbrüche oder andere Verletzungen zuziehen. Menschen, die trotz ihrer Erschöpfung im Job perfekt funktionieren und auch ihre Freizeit generalstabsmäßig durchplanen und vollpacken. Menschen, die alle Verpflichtungen erfüllen, aber keine Freude mehr empfinden, sondern nur noch Leere und Antriebslosigkeit. Sie sind dauererschöpft und oft auch depressiv, bemerken das aber erst viel zu spät. Viele haben den Eindruck, an ihrem Leben vorbeigelebt oder vorbeigearbeitet zu haben. Kommt Ihnen das bekannt vor? Wahrscheinlich kennt jeder mindestens einen Menschen, der genauso tickt oder ist sogar selbst betroffen.
Diagnosestellung des Burn-on-Syndroms
Das Burn-on-Syndrom kann als eine arbeitsbezogene Störung definiert werden, bei der es durch eine kontinuierliche Stressbelastung zu einer chronischen Erschöpfung kommt. Bert te Wildt und Timo Schiele schlagen für die Diagnose vor, dass es über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten zu diesen drei Kriterien kommt:1. Auf der Verhaltensebene verselbstständigt sich für Arbeitsprozesse ein geschäftiger Aktionismus, während es bei aufschiebbaren alltäglichen Aufgaben zunehmend zu einer Handlungslähmung kommt.2. Auf der emotionalen Ebene zeigt sich vordergründig ein angestrengter Positivismus, der im Widerspruch zu einer tatsächlich erlebten Freudlosigkeit steht.3. Auf der kognitiven Ebene dominiert ein Perfektionismus, der einem tief empfundenen Unzulänglichkeitsstreben kompensatorisch gegenübersteht.
Charakteristisch ist auch eine Differenz zwischen äußeren Anschein und inneren Erleben. Betroffene neigen immer mehr dazu, sich selbst zu entwerten. Im Umgang mit der Außenwelt sind sie angespannt und unachtsam. Im Gegensatz zum Burn-out bleibt der akute psychische Zusammenbruch aus, der Übergang ist aber dennoch möglich.
Auch Chefarzt Bert te Wildt und Timo Schiele, leitender Psychologe der Klinik, erkannten die immer wiederkehrenden Symptome. Seit vier Jahren bauen sie die Klinik auf und bemerkten irgendwann ein Muster: „Viele Patientinnen und Patienten kamen zu uns und stellten sich mit einem Burn-out vor. Aber die Kriterien passten nicht. Diese Menschen wiesen zwar Zeichen von Erschöpfungsdepressionen und Angsterkrankungen auf, aber sie waren fleißig und brav, es gab kein Depressionserleben und auch keinen Zynismus der Arbeit gegenüber. Das passte nicht zum Burn-out“, erinnert sich te Wildt.
Auch brachen die Betroffenen nicht irgendwann zusammen, sondern machten immer weiter. „Wie bei einer Erkältung verschleppten sie ihre Erschöpfung und entwickelten nicht selten eine Depression. Einige Patienten begannen, ihr gesamtes Leben zu hinterfragen und Gedanken an den Tod zu entwickeln. Trotzdem zeigten sie nach außen weiterhin ein Lächeln“, ergänzt Schiele. Aus dem, was sie täglich in ihrer Klinik sahen, puzzelten te Wildt und Schiele sich nach und nach ein Phänomen namens Burn-on zusammen. Als offizielle Krankheit taucht es bisher noch nicht im ICD-Klassifikationskatalog auf, deshalb ist momentan die Bezeichnung Syndrom die passendste.
„Alles fühlt sich inzwischen wie eine Verpflichtung an“
Schiele und te Wildt haben nun auch ein Buch über ihre Beobachtungen geschrieben, in dem sie ausführlich Symptome, Therapie- und Präventionsansätze beschreiben. Als typischen Burn-on-Patienten beschreiben sie darin diesen Fall: „Herr L. ist freundlich, sympathisch, verheiratet mit zwei Kindern und beruflich sehr erfolgreich. In die Klinik kommt er wegen großer Erschöpfung und den Worten: Im Außen performe ich immer noch. Zuhause kriege ich allerdings nichts mehr hin und schiebe alles auf. Alles fühlt sich inzwischen wie eine Verpflichtung an, auch die Dinge, die ich immer genossen habe.“
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Sowohl im Job als auch in der Familie habe er das Gefühl, zu wenig zu leisten und sei so in eine tiefe Lebenskrise geraten. Weil er bisher weiter gut funktioniert habe und gute Leistungen abgeliefert habe, seien alle in seinem Umfeld überrascht gewesen, als „ausgerechnet er“ von seinen psychischen Problemen berichtete.
Schmerzhafter Spagat zwischen zwei Polen
Schiele und te Wildt beschreiben diese Situation als dauerhaften Spagat zwischen zwei Polen: „Und während wir beim Burn-out abstürzen, lässt sich so ein Spagat über dem Abgrund im Burn-on schrecklich lange aufrechterhalten. Der Preis, den wir mit unserer Gesundheit zahlen, ist immens.“
Noch mehr Informationen zum Burn-on-Syndrom
Prof. Dr. med. Bert te Wildt ist Chefarzt der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee. Seine klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der Verhaltenssüchte, zu denen auch der Workholism und Internetsucht gehören. Timo Schiele ist leitender Psychologe der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee und arbeitete zuvor unter anderem in der psychosomatischen Tagesklinik München mit den Schwerpunkten Depressions- und Essstörungsbehandlung.
Gemeinsam haben sie das Buch „Burn on. Immer kurz vorm Burn out. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft“ geschrieben (Droemer Verlag, 295 Seiten, 20 Euro)
Wenn diese dauerhaft unter Strom stehenden Menschen in die Klinik kämen, sei es zunächst schwierig für sie, das Tempo herunterzufahren. „Viele Patientinnen und Patienten sind extrem angespannt. Sie verausgaben sich bei uns in extremem Sport oder auch in extremer Wellness, um irgendwie zur Ruhe zu kommen. Langfristig muss die Frage aber lauten, wie sie zu einer Entspannung finden können, die ihnen wirklich Freude macht. Sie müssen lernen, im Hier und Jetzt zu sein und ihre tatsächlichen Bedürfnisse wieder zu erspüren“, erklärt Schiele.
Burn-on-Syndrom ist alters- und klassenlos
Den typischen Patienten gibt es für ihn nicht. Allen sei gemein, dass sie ihren Selbstwert allein über ihre Leistung bezögen. „Und in der Gesellschaft gilt nun mal nur der als erfolgreich, der erschöpft ist“, sagt Schiele. Das Phänomen sei alters- und klassenlos, allerdings hätten oft Frauen oder Mütter von kleinen Kindern noch stärkere innere Hürden, loszulassen und ihre Erschöpfung anzuerkennen. „Wir beobachten zudem, dass der Zustand des Burn-on häufig in Umbruchphasen auftritt, zum Beispiel rund um Trennungen oder kurz vor der Rente. Auch die Corona-Zeit hat viele Menschen zum Nachdenken über ihr Leben angeregt“, ergänzt te Wildt.
Behandlung und Vorbeugung
Während sich der Burn-out mittlerweile als bekanntes Phänomen etabliert hat, ist die Dauererschöpfung bei gleichzeitig ungebrochener Leistungsbereitschaft noch relativ neu. Die Übergänge in den Burn-out können fließend sein, deshalb sollte die Behandlung rechtzeitig beginnen oder – noch besser – Prävention den Zustand des Burn-on verhindern. An erster Stelle steht deshalb die Selbstbeobachtung. „Wir raten den Patientinnen und Patienten, bewusst durch ihr Leben zu gehen und sich über die auslösenden Faktoren für ihren Zustand klar zu werden“, schreiben Schiele und te Wildt in ihrem Buch. Anschließend geht es an die Bewertung: Fühle ich mich mit meinem Leben unter Strom wohl? Ist der ständige Spagat für mich in Ordnung? Der dritte Schritt nennt sich Selbstverstärkung: Welches Problem habe ich gerade? Wie fühle ich mich? Was könnte ich tun, dass es mir besser geht? Ziel wäre es, dass man sich gut behandelt, sich etwas Gutes tut, das als positiv erlebt und deshalb in Zukunft möglichst oft wiederholt.
Langfristig geht es darum, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und so zu handeln, dass es einem selbst gut tut. Es geht um Achtsamkeit, Pausen und Grenzen. Weil das alles natürlich nicht so einfach umzusetzen ist und zum Teil jahrelang eingeübte Verhaltensweisen durchbrochen werden müssen, wird eine Psychotherapie empfohlen. Für den Moment kann es all denjenigen, die sich in den Beschreibungen wieder erkennen, aber schon einmal helfen, dass sie nicht alleine sind mit ihren Gefühlen.