Der erste Herbst ohne Corona-Maßnahmen naht. Worauf müssen wir uns krankheitstechnisch einstellen? Zwei Kölner Experten wagen den Ausblick.
Kölner Experten warnenDiese Infekte drohen im Herbst – und die Medikamente dagegen fehlen
Erst Corona. Dann im vergangenen Winter das RS-Virus bei Babys und Kleinkindern. Zwischendurch Grippewelle. In den vergangenen Jahren haben uns Viren, die den Atemtrakt befallen, das Leben ganz schön schwer gemacht. Was mag da bloß im nahenden Herbst und Winter auf uns zukommen? Und sind wir medikamententechnisch überhaupt dafür ausgerüstet? Dazu haben wir zwei Kölner Experten um ihre Einschätzung gebeten: Clara Lehmann ist Professorin in der Infektionsambulanz der Uniklinik Köln, Thomas Preis ist Apotheker und Vorsitzender des Apothekenverbands Nordrhein.
Welche Krankheiten werden eine Rolle spielen?
„Auf jeden Fall werden uns die respiratorischen Viren wieder beschäftigen, also jene Erreger, die den Atemtrakt befallen“, sagt Clara Lehmann. Dazu zählt sie Corona, die Grippe-Viren der Familien Influenza und Para-Influenza sowie das RS-Virus. „Diese Erreger sind mal mehr und mal weniger aggressiv. Wie das in dieser Saison aussehen wird, kann man noch nicht sagen, denn das hängt von sehr vielen Faktoren ab.“
Ein guter Indikator sei häufig, sagt Thomas Preis, wie die Winter-Saison in Neuseeland und Australien abgelaufen sei. „Das, was dort von Mai bis September passiert, betrifft uns oft einige Monate später auch. So war es 2022 bei RSV. Und in den vergangenen Monaten hatten die Australier und Neuseeländer mit einer starken Influenza-Welle zu kämpfen.“ Deswegen gibt es die Befürchtung, dass in diesem Winter die Grippe auch bei uns in Europa grassieren könnte.
Wie ist die Lage aktuell?
Klar ist: Schon jetzt gehen alle möglichen Erkältungs-Infektionen um. Und wenn das schöne Wetter vorbei ist, drohen uns deutlich mehr Infektionen, so Preis. „Sobald es kühler wird und wir uns in geschlossenen Räumen aufhalten, verbreiten die Viren sich schneller.“ Vor allem, was Corona angeht, ist er gespannt, wie die Lage sich entwickelt: „Das ist der erste Herbst, in dem es überhaupt keine Corona-Maßnahmen mehr gibt, keine flächendeckenden Testungen, keine Maskenpflicht, keine Isolation.“ Die Corona-Dunkelziffer schätzt Preis hoch ein.
Und man darf ja nicht vergessen: Die Maßnahmen haben auch andere Erreger effektiv auf Abstand gehalten. Thomas Preis befürchtet, dass sich vor allem kleine Kinder, die während der Corona-Zeit geboren sind, verstärkt mit Viren infizieren könnten. „Diese Kinder konnten sich ja bisher nicht in dem Maße eine Immunität aufbauen, wie es normalerweise der Fall gewesen wäre.“
Clara Lehmann rechnet in dieser Saison wieder mit sogenannten Nachhol-Effekten, auch bei Erwachsenen. Also damit, dass sich durchschnittlich mehr Menschen mit Erkältungsviren infizieren als noch vor Corona. „Natürlich haben gesunde Erwachsene eine Grundimmunität, aber unsere immunologische Abwehr muss regelmäßig trainiert werden – und das haben wir während der Corona-Winter nicht getan.“
Wie steht es um die Arzneimittel-Versorgung?
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass wir und unsere Kinder uns in diesem Winter einen Atemwegsinfekt einfangen. Dann brauchen wir Medikamente – und die sind knapp. Sehr knapp. „Die Arzneimittelversorgung von Kindern und Erwachsenen hängt im kommenden Winter am seidenen Faden“, warnt Thomas Preis eindringlich. So hatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach den pharmazeutischen Großhandel im Sommer gebeten, ausreichende Vorräte für den Winter anzulegen. „Die Antwort der Großhändler war erschreckend“, sagt Preis. „Bei 85 Prozent der für den Herbst und Winter dringend benötigten Arzneimittel reichen die Bestände nicht einmal für zwei Wochen.“
Preis weist darauf hin, dass immer mehr Medikamente per Sonderzulassung aus dem Ausland importiert werden müssen – und dabei wichtige Sicherheitsaspekte außer Acht gelassen werden. „Teilweise werden uns Antibiotika ohne Beipackzettel und Dosierlöffel angeliefert. Das ist ein Skandal und kann auch gefährlich sein. Denn viele aufgeregte Eltern haben die Erklärungen der Apotheker zur richtigen Anwendung bis zu Hause doch wieder vergessen.“
Warum gibt es die Lieferengpässe überhaupt?
Die Gründe für die katastrophale Lage sind finanzieller Natur, erklärt Preis. Bei 80 Prozent der Medikamente, die angewendet werden, sei der Patentschutz abgelaufen. Aufgrund des Marktdrucks der Krankenkassen müssen sie sehr günstig verkauft werden. Diese Medikamente werden meist sehr preiswert nur noch in zwei oder drei Werken in Asien für den weltweiten Bedarf hergestellt. Gibt es in einem dieser Werke Produktionsprobleme, herrscht eine Knappheit – und die Produzenten verkaufen an den Höchstbietenden.
„Länder, die derzeit keine Probleme mit der Arzneimittelversorgung haben, geben einfach mehr Geld für Medikamente aus“, sagt Preis. „Und Deutschland zahlt sehr wenig.“ Er fordert von der Bundesregierung, den Herstellern Abnahmegarantien auszustellen – ähnlich wie bei den Corona-Impfstoffen. „Der Staat muss dafür sorgen, dass ausreichend Arzneimittel vorhanden sind, denn diese gehören zur Daseinsvorsorge der Menschen!“
Wie sieht es beim Thema Impfen aus?
Anders sieht die Lage bei Impfstoffen aus. „Es ist genügend vorhanden“, sagt Thomas Preis. „Ab dem 18. September werden auch die neuen, angepassten Corona-Impfstoffe in den Arztpraxen verfügbar sein.“ Professorin Clara Lehmann plädiert vehement dafür, dass alle sich – entsprechend der Empfehlungen – impfen lassen. Heißt: Menschen über 60 Jahre und Vorerkrankte sollten sich auf jeden Fall die Spritze gegen Grippe und Corona geben lassen. Apotheker Thomas Preis rät dazu, sich beide Impfungen zeitgleich spritzen zu lassen, eine in jeden Arm. „Ja, es ist möglich, dass man dann eine etwas stärkere Impfreaktion hat, aber unserer Erfahrung nach wird der zweite Impftermin oft vergessen, wenn man die Impfungen splittet.“ Für Menschen über 60 ist auch eine Impfung gegen das RS-Virus möglich, eine für Schwangere, die das Baby bis in den sechsten Lebensmonat hinein schützen soll, wurde auf den Weg gebracht.
Und wenn man jünger als 60 Jahre alt ist? Laut Ständiger Impfkommission benötigt man keine Auffrischung der Corona-Impfung, wenn man dreimal Kontakt mit dem Antigen hatte – entweder durch Impfung oder Infektion. Dem stimmt Clara Lehmann zu, sofern man ein intaktes Immunsystem hat. Menschen mit vielen Kontakten, etwa Pflegenden, Lehrkräften und Busfahrern sowie Personen mit immungeschwächten Angehörigen empfehlen die Experten vor allem die Grippe-Impfung. „Mir persönlich wäre ja am liebsten, dass alle sich so viel wie möglich impfen lassen“, sagt Clara Lehmann. „Denn je mehr Menschen immunisiert sind, desto weniger Möglichkeiten haben die Viren, sich auszutoben.“ Doch im Gegensatz zu anderen Ländern herrsche bei uns leider mittlerweile wieder eine Impfmüdigkeit.
Wie können wir uns sonst schützen?
„Viel schlafen, viel frische Luft, ausgewogen ernähren“, zählt Clara Lehmann auf. Und sie rät: „Wer Halsschmerzen, Husten oder Schnupfen hat, sollte nicht ins Kino oder Großraumbüro gehen, sondern zu Hause bleiben.“ Und zwar nicht, weil die Corona-Maßnahmen es verlangen, „sondern aus Respekt gegenüber den Mitmenschen“. Sie selbst trage, wenn sie sich angeschlagen fühle, einfach eine Maske. „Wir wissen, dass die Maske ein sehr guter Schutz ist.“ Auf Corona müsse man sich nicht unbedingt testen. Thomas Preis hingegen plädiert dafür, bei Erkältungssymptomen schnell einen Selbsttest zu machen und sich auch sonst an die Hygiene-Maßnahmen zu erinnern: „Sobald man krank ist, sollte man auf den Abstand zu anderen achten.“ Corona, so viel wird klar, spielt in diesem Herbst und Winter wohl nicht mehr die alleinige Hauptrolle.