Mobilitätsforscher„Infektionszahlen steigen, weil die Menschen mehr unterwegs sind”
Physiker Kai Nagel und sein Team untersuchen an der Technischen Universität Berlin, wie sich das Coronavirus ausbreitet und vergleichen dies mit den Bewegungsdaten der Menschen in Berlin. Die Wissenschaftler sehen, wie die Menschen auf Maßnahmen reagieren, ob sie sich an Regeln halten, ob sie etwa mehr oder weniger unterwegs sind. Welche Schlüsse die Simulation auf den Rest der Bundesrepublik zulässt, verrät der Mobilitätsforscher im Interview.
Sie untersuchen in einer Simulation, wie sich die Menschen und das Virus in Berlin bewegen. Können Sie kurz erklären, wie Sie vorgehen und welche Daten Sie nutzen?
Prof. Kai Nagel: Wir kommen eigentlich aus der Verkehrsplanung und modellieren, wie sich Menschen in der Stadt oder in Regionen bewegen. Dafür nutzen wir unter anderem anonymisierte Mobilfunkdaten, die wir über die Anbieter erhalten. In der Corona-Krise haben wir in unser Modell die Virusdynamik miteinbezogen. Dazu haben wir Daten zu Ansteckung, Verbreitung, Infizierten und Inkubationszeit des Virus in die Simulation aufgenommen. Im Modell sehen wir dann synthetische Personen, die sich wie Berlinerinnen und Berliner bewegen, sowie daran angekoppelt das Virus und seine Ausbreitung.
Das Forschungsprojekt ist nun knapp ein Jahr alt. Was können Sie zur Virusinfektionsdynamik und der Bewegung der Menschen nach dieser Zeit resümieren?
Das Coronavirus verhält sich ganz anders als Influenzaviren, was dazu führt, dass etablierte Konzepte häufig nicht gut funktionieren. Während Influenza hauptsächlich über Tröpfchen übertragen wird, verbreitet sich das Coronavirus zu großen Teilen durch Aerosole, also einen Virusnebel. In einem Innenraum kann ein Infizierter andere Personen über viel größere Distanzen anstecken als bei der Grippe.
Wir sehen in unseren Daten auch, dass die Regelungen der Regierung nicht immer vollständig mit dem Verhalten der Menschen übereinstimmen: Die Berliner haben sowohl im Frühjahr 2020 als auch zum November 2020 bereits auf die Ankündigung zu verschärften Maßnahmen reagiert und sich weniger bewegt. Sie haben also nicht gewartet, bis die Regeln verpflichtend waren. Beim Dezember-Lockdown können wir allerdings erkennen, dass die Menschen in den ersten beiden Dezember-Wochen, also kurz vor dem Lockdown, mehr unterwegs waren als vorher. Wir vermuten, dass sie noch Weihnachtsgeschenke eingekauft haben. Im letzten Frühjahr und auch jetzt ab Mitte Februar sehen wir, dass die Menschen wieder mehr unterwegs sind als zu Beginn des jeweiligen Lockdowns, ohne dass sich die Regeln geändert haben. Die Gründe für dieses Verhalten lassen sich in den Daten natürlich nicht ablesen.
Können Sie anhand der Daten in Ihrem Modell sehen, an welchen Orten sich Berlinerinnen und Berliner am meisten infiziert haben?
Die meisten Ansteckungen finden zwischen Mitgliedern des eigenen Haushalts statt. Trotz der Einschränkungen sind private Besuche eine weitere wesentliche Quelle für Ansteckungen. In Büros oder Schulen stecken sich Berlinerinnen und Berlinern an, wenn keine Masken getragen werden. Setzen Schulen auf Wechselunterricht und Masken, so minimiert sich das Ansteckungsrisiko. Restaurants spielen momentan keine Rolle, weil sie geschlossen sind. Wir wissen aber, dass die Innengastronomie ein großes Infektionsrisiko birgt.
Die Simulation bezieht sich auf die Großstadt Berlin. Inwieweit lassen sich Schlüsse für den Rest der Bundesrepublik daraus ziehen?
Wir sollten ungeschützte Kontakte im Innenraum mit Personen, die nicht zu unserem eigenen Haushalt gehören, vermeiden. Wir müssen nicht gänzlich auf diese Treffen verzichten, da es verschiedene Schutzmöglichkeiten gibt: Schnelltests, Maske tragen, Impfungen, Lüften oder das Treffen ins Freie zu verlegen. Irgendeine dieser Schutzmöglichkeiten muss gewählt werden, wenn wir die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle behalten wollen. In Großbritannien sind private Treffen im öffentlichen Raum seit dem 5. Januar verboten. An den Zahlen dort sehen wir sehr gut, dass diese Kontaktreduktion selbst gegen die aggressivere Mutante wirksam ist. Das bestätigt, dass diese privaten Besuche eine starke Komponente in der Krise sind.
Konnten Sie im Modell sehen, wie gut sich die Menschen an die Kontaktbeschränkungen gehalten haben?
Wir sehen in unserer Simulation sehr gut, ob die Menschen mehr oder weniger unterwegs sind – in Folge von bestimmten Maßnahmen. Wir wissen also, ob sie viel oder wenig Zeit außerhalb ihres Zuhauses verbringen. Wir wissen aber nicht genau, wie die Menschen die Zeit verbringen, wenn sie in Berlin unterwegs sind, also ob zum Beispiel in Innenräumen oder in Parks.
Im letzten Report von Ende Februar haben Sie die Virusmutation B1.1.7 einberechnet und geschildert, dass sie im März dominieren wird. Welche Auswirkungen hat das auf die Virusinfektionsdynamik?
Der Anteil von B1.1.7 ist immer größer geworden. Die Mutation ist in bestimmten Kontexten doppelt so ansteckend wie die bisherige Variante. Heißt: Bei einer einstündigen Tasse Kaffee hat sich bisher eine von zehn Personen angesteckt, jetzt neu doppelt so viele, also zwei von zehn. Bei bisher schon hohen Wahrscheinlichkeiten sättigt dies aber: Ehepartner haben sich bisher mit einer Wahrscheinlichkeit von circa 60 Prozent angesteckt, jetzt neu mit circa 84 Prozent, also deutlich weniger als doppelt so viel.
Sie prognostizierten bereits Ende Februar eine dritte Welle. Ist sie schon da?
Ja. Wir sehen sehr eindeutig, dass der jetzige Anstieg auf der Mutation beruht und zu einem Teil auch, weil die Menschen mehr unterwegs sind. Wir sind wieder im exponentiellen Anstieg – wir befinden uns allerdings noch ganz am Anfang.
Wie könnten Schnelltests dabei helfen, die Ausbreitung der Infektion einzudämmen?
Fällt ein Schnelltest positiv aus, sollten Menschen direkt in Quarantäne gehen. Bestätigt ein PCR-Test das Ergebnis, bleiben die Menschen 14 Tage in Quarantäne. War der Schnelltest falsch positiv, können sie wieder raus gehen. Die Schnelltests helfen uns in der Pandemie, die Personen zu finden, die ansteckend sind, auch wenn sie keine Symptome zeigen. Mindestens 40 Prozent der Bevölkerung müsste jede Woche getestet werden, damit die Schnelltests ein wirksames Instrument sind. In Berlin will man auf drei Millionen Tests pro Woche kommen, was noch über den 40 Prozent liegt. Testen sich die Menschen vor dem Besuch bei der Familie, vor der Arbeit oder vor dem Schulbesuch, dann funktionieren die Schnelltest als Schutzmaßnahme.
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Sie bewerten in dem Modell auch die Wirksamkeit der Maßnahmen. Welche Maßnahmen würden Sie anhand der Daten für die kommenden Wochen empfehlen?
Es ist wichtig, auf ungeschützte Kontakte in Innenräumen zu verzichten. Darauf sollte auch in Büros geachtet werden oder bei Schulen, wenn sie geöffnet sind. Schutz kann, wie gesagt, durch das Tragen von Masken, Wechselunterricht oder Schnelltest gewährleistet werden. Wir empfehlen auch, komplett auf private Treffen in Innenräumen zu verzichten, wenn vorher kein Schnelltest gemacht wurde oder keine Masken getragen werden.
Herr Nagel, vielen Dank für das Gespräch!