Wie die anhaltende Krisensituation Erwachsene und Kinder belastet, was man konkret tun kann, um psychisch stabil zu bleiben und welche Langzeitfolgen zu erwarten sind, erklärt Vagif Gousseinov im Interview. Er ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Düsseldorf.Herr Gousseinov, was macht der Lockdown mit Menschen, die schon vor der Krise psychisch instabil waren?Vagif Gousseinov: Für viele Menschen mit psychischen Problemen bringt das enorme Schwierigkeiten im Alltag mit sich. Patienten mit einer klassischen Depression, die sich eh schon oft einsam und isoliert fühlen, sind durch den Lockdown noch stärker eingeschränkt. Diese Menschen drohen nun emotional unterzugehen, auch, weil sich die Atmosphäre in der Gesellschaft rapide verändert hat. Sie ist angespannter, ungeduldiger, ja sogar feindseliger geworden. Jeder Bürger, jede Bürgerin hat jetzt seine eigene Wahrheit. Das führt dazu, dass sich das Krankheitsbild der Depression bei vielen Patienten verstärkt.
Steigt durch die Pandemie auch die Zahl der psychisch Erkrankten?
Wir haben seit Ausbruch der Pandemie deutlich mehr Patienten zu verzeichnen. Obwohl man ja denken könnte, dass sich viele Menschen derzeit gar nicht trauen, in eine Arztpraxis zu gehen. Es kommen viele ältere Menschen, die es einfach nicht mehr aushalten. Wir stellen eine Zunahme der affektiven Störungen fest. Das Einhalten der Hygieneregeln und die rigiden Kontaktverbote sind ständige Stressfaktoren, die bei manchen auch zu Triggern einer Psychose werden können. Oder dafür sorgen, dass eine ernste Krise ausbricht. Bei denjenigen, die schon vor Corona Ehe- oder Beziehungsprobleme hatten, kocht es jetzt richtig hoch.
Ein ganz klassischer Fall: Ein depressiver Patient hat einen gesunden Partner. Unter Corona verschlimmert sich die Krankheit. Die Folge: Trennung, beide sind verzweifelt. Ein anderer Fall: Für jemanden, der eine Zwangsstörung hat, übermäßige Angst vor einer Ansteckung mit einer Krankheit etwa, ist Corona eine Katastrophe. Einer meiner Patienten, der sich vor der Pandemie 20-mal am Tag die Hände waschen musste, macht das jetzt nach Angaben seiner Familie bis zu 100-mal am Tag. Dieser Patient versteckt auch sein Essbesteck zu Hause, weil Kinder oder Ehefrau es nicht anfassen dürfen.
Gibt es auch negative Auswirkungen bei Menschen, die gemeinhin als gesund gelten?
Auf jeden Fall. Es gibt gesunde Menschen, die durch Corona unverschuldet in die Bredouille geraten. Ein Beispiel: Jemand, der wegen Corona mehrfach Jobs verloren hat, obwohl es an seinem Pensum und seinem Einsatz nicht gelegen hat. Der Anteil von Patienten mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel oder Schlaflosigkeit hat innerhalb der vergangenen zehn Monate stark zugenommen. Die Leute reagieren also auch mit körperlichen Symptomen und psychosomatisch bedingten Beschwerden auf die emotionalen Belastungen der Corona-Krisensituation.
Fürchten Sie vermehrt Langzeitfolgen, wenn die schlimmste Phase der Pandemie vorüber ist?
Mein Job lehrt mich, dass ich immer positiv eingestellt sein muss. Ich gehe davon aus, dass wir alle – Ärzte, Politiker, auch Journalisten – alles dafür tun werden, um wieder zurück zur Normalität zu kommen. Viele Leute werden sich wieder besser fühlen, wenn die große Welle vorbei ist. Meine Befürchtung ist aber, dass die Monate der sozialen Distanz nicht von allen Menschen schnell überwunden werden können. Der emotionale Austausch, also die Möglichkeit, sich anfassen, umarmen oder auch küssen zu können, macht ja unsere Menschlichkeit aus. Ich habe die Sorge, dass diese Art der Kommunikation für eine längere Zeit von vielen aus Angst verbannt wird.
Was macht die soziale Isolation mit Kindern und Jugendlichen?
Das ist ein Bereich, über den in der Öffentlichkeit viel zu wenig gesprochen wird. Es ist schwierig, wenn sich Kinder nicht treffen, miteinander spielen oder zusammen freudig lachen können. Es geht ihnen ein Stück Kindheit verloren. Machen Eltern sind sehr restriktiv, so dass ihre Kinder monatelang kein anderes Kind gesehen haben. Das finde ich höchst problematisch. Man kann nämlich auch die Fähigkeit verlernen, seine Emotionalität zu leben und zeigen. Statt draußen zu spielen, sitzen die Kinder jetzt oft vor den Gaming-Konsolen. Sie verschwinden in einer zweiten Realität und laufen Gefahr, ihr echtes Leben zu vergessen.
Hat die Bundesregierung dieses Thema ausreichend im Blick?
Es gibt eine ganze Reihe von Themen, die ich als Kollateralschäden bezeichne und die noch gar nicht aufgearbeitet wurden. Ich verstehe, dass es höchste Priorität haben muss, die Todeszahlen zu reduzieren. Aber man darf die anderen Auswirkungen der Pandemie nicht außer Acht lassen. Emotionale Schäden tragen wir vermutlich alle mit uns herum. Das muss evaluiert werden, und dann müssen wir für die nächsten Monate und Jahre besser vorbereitet sein. Das Virus wird nicht einfach so wieder verschwinden. Wir müssen lernen, mit ihm zu leben.
Was fordern Sie konkret?
Wir müssen stärker die Menschen hinter den RKI-Zahlen und hinter dem Lockdown sehen: Wie geht es den Alten und Pflegebedürftigen, die von der Außenwelt isoliert in Heimen leben? Wie geht es den Kindern, die nicht in die Schulen und Kitas gehen dürfen? Wie geht es den Menschen, die den Job, ihr eigenes Geschäft oder auch das Heim verlieren? Das Virus macht mit unserer Gesellschaft sehr viel. Daraus müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen. Wir können uns auf Dauer nicht alle verstecken wie in einem Science-Fiction-Film.
Finden Ärzte und Psychologen in den Corona-Krisenstäben zu wenig Gehör?
Wir hören sehr viele Meinungen von Virologen. Die Stimmen der aktiven Ärzte sind unterrepräsentiert. Neben den Theoretikern und Wissenschaftlern brauchen wir Hausärzte, Kinderärzte und Psychologen, die mit Patienten arbeiten und die die Maßnahmen aus der Praxis heraus bewerten können. Es ist dringend geboten, diese Sichtweise in den Expertenräten, mit denen sich die Politik umgibt, stärker zu berücksichtigen. Es ist ein Unterschied, ob sie eine wissenschaftliche Studie betreuen oder täglich Patienten behandeln.
Die Impfkampagne ist gestartet, aber viele Menschen haben Vorbehalte. Woran liegt das – und wie kann man die Angst vor der Impfung nehmen?
Ich bin für Aufklärung und keinen Zwang. Je mehr Zwang ausgeübt wird, desto mehr Widerstand kommt. Die Skeptiker müssen mit Argumenten und Transparenz überzeugt werden. Die Aufklärungskampagne muss breiter als bislang angelegt sein. Es dürfen nicht immer nur die gleichen, wenigen Protagonisten zu sehen und zu hören sein, das führt zu Ablehnung. Auch hier gilt: Es müssen mehr aktiv tätige Ärzte und weniger Wissenschaftler mitmachen. Das führt am Ende zu einer höheren Akzeptanz.
Muss es jetzt auch stärker darum gehen, die vulnerablen Gruppen und Risikopatienten zu schützen und etwa den Geimpften wieder ein normaleres Leben zu ermöglichen?
Ja, unbedingt. Wir wussten doch schon im späten Frühling des vergangenen Jahres, dass Ältere gefährdeter sind als Junge. Ich hätte mir gewünscht, dass in der Zeit zwischen April bis Oktober bessere Maßnahmen zum Schutz der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen erarbeitet worden wären. Eine übergreifende Strategie, die in allen Einrichtungen angewendet wird, kann ich nicht erkennen. In manchen Heimen muss man nur Maske tragen, anderswo auch Schutzkittel, in einigen wird bei den Besuchern Fieber gemessen. Es sterben leider immer noch sehr viele Menschen in den Alten- und Pflegeheimen. Die Politik hätte mehr tun können, um den Schutz derjenigen zu verbessern, die direkter Lebensgefahr ausgesetzt sind. Stattdessen wurden die Schulen und teilweise die Kitas geschlossen, was ich für problematisch halte.
Was kann denn jeder einzelne konkret tun, um in der Krise psychisch stabil zu bleiben?
Wichtig ist: Wir müssen offen für andere Meinungen bleiben und mit Kritikern reden. Die Spaltung in Dafür oder Dagegen bei den Corona-Maßnahmen schadet am Ende uns allen. Skeptiker dürfen nicht abgestempelt werden, das führt nur dazu, dass diese in den Untergrund gehen. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Wir müssen unsere Toleranz bewahren, das macht unsere Demokratie aus. Und es hilft uns auch dabei, in der Krise Ängste abzubauen und stabil zu bleiben.