Experte im InterviewAb wann gilt man als internetsüchtig?

Ein Jugendlicher schaut sich Inhalte auf der Videoplattform „YouTube" an.
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Berlin – Thomas Klein-Isberner ist therapeutischer Leiter in Fontane-Klinik in Brandenburg. Dort werden auch PC- und Internetabhängige behandelt – eine relativ neue Form der Sucht. Im Interview erzählt er, wann das Internet gefährlich werden kann und wieso Internetsucht eine Abhängigkeitserkrankung wie jede andere auch ist.
Herr Klein-Isberner, ich schaue oft auf mein Smartphone, checke meine Mails, schreibe Nachrichten, lese News, benutze Apps, bin ich internetsüchtig? Ab wie vielen Stunden Onlineaktivität bin ich gefährdet?
Thomas Klein-Isberner: Nur weil man häufig sein Smartphone nutzt, ist man nicht abhängig. Es kommt ja darauf an, wie man es nutzt. Früher hat man Zeitung gelesen oder auf die Landkarte geschaut, heute macht man das über das Internet. Das ist ja nur ein anderes Material und daher undramatisch. Man kann das daher auch nicht in Stunden festmachen. Denn wie bei allen anderen Süchten geht es um Leidensdruck. Man muss den Blick auf die negativen Folgen legen. Wenn Arbeit, Freunde und Familie vernachlässigt werden, man Termine platzen lässt, man sozial, emotional und körperlich leidet, wenn man nicht Computer spielt, in den sozialen Netzwerken chattet, Videos schaut oder surft, dann befindet man sich in einer Abhängigkeit, die gefährlich werden kann. Wer das erkennt, aber sein Verhalten trotzdem nicht ändern kann, ist süchtig.
Ist PC- und Internetsucht eine Krankheit?
Klein-Isberner: Noch nicht offiziell. Sie wird momentan noch als Impulskontrollstörung oder auch als Persönlichkeits- und Verhaltensstörung begriffen. Das sind, wenn man so will, eher Verlegenheitsdiagnosen. Doch erst wenn sie als Krankheit definiert ist, wird sie auch als Krankheit behandlungswürdig. Das war übrigens beim Alkohol genauso. Alkoholismus wurde früher als Willensschwäche angesehen, bevor er als Krankheit anerkannt wurde. Krankheiten entwickeln sich in der Medizin immer weiter. Und PC- und Internetsucht ist eben etwas ganz Neues.
Was sind die Folgen von Internetsucht?
Klein-Isberner: Die Symptome sind ähnlich wie bei allen anderen Süchten. Alles begrenzt sich auf dieses Medium. Bei einem Internet- und PC-Abhängigen konzentriert sich alles auf den Computer und das Internet. Man hat auch Entzugserscheinungen, so dass man unruhig und hibbelig wird, wenn man sich davon lösen muss. Wenn man den ganzen Tag vor dem Computer sitzt, bewegt man sich natürlich zu wenig. Gereiztheit kann eine Folge sein, auch Depressionen, Kopf-, Rücken- und Augenschmerzen, sowie Sehnenscheidentzündungen. Manche Spieler verlassen den ganzen Tag nicht mehr den Platz, weil sie sonst Angst haben, etwas zu verpassen. Sie essen vor dem Computer. Es gibt auch Menschen, die sich Vorrichtungen dafür gebaut haben, dass sie nicht mal mehr zur Toilette ins Badezimmer müssen.
Welche Menschen sind am meisten gefährdet?
Klein-Isberner: Man kann schon sagen, dass Online-Rollenspiele tendenziell eher junge Männer, und die sozialen Netzwerke mehr junge Frauen anziehen. Aber letztlich ziehen sich alle Themen und Genres durch alle Geschlechter und sämtliche Altersstufen - wobei natürlich jüngere Menschen eher betroffen sind.
Wonach suchen diese Menschen?
Klein-Isberner: Das ist eine Flucht aus dem Alltag. Die betroffenen Menschen suchen nach etwas, das sie stabilisiert, was ihnen gut tut. Über die sozialen Netzwerke ist es zum Beispiel sehr leicht, Kontakte zu knüpfen, leichter als im Alltag, wo man vielleicht eher Hemmungen hat, jemanden anzusprechen. Die Rollenspieler erschaffen sich beispielsweise einen Avatar, mit dem sie dann erfolgreich ein virtuelles Leben leben - erfolgreicher als im normalen Leben. Damit werden Defizite kompensiert.
Ein trockener Alkoholiker darf nicht mehr trinken, sonst wird dies als Rückfall angesehen. Doch das Internet lässt sich nicht mehr abstellen, es gehört zu unserem Leben dazu. Wie sieht eine Therapie aus, damit jemand einen moderaten Umgang lernt?
Klein-Isberner: Das ist ähnlich wie bei Menschen, die eine Essstörung haben. Die können auch nicht einfach aufhören zu essen. Es geht darum, die Kontrolle wiederzu erlangen. Bei einer Internet- oder PC-Abhängigkeit kann man das bildhaft mit einem Ampelsystem darstellen. Da wird in der Therapie erarbeitet, was rot, was gelb und was grün ist. So wird dann bei einem Onlinespieler das Computerspiel als roter Bereich angesehen - aber die Seite Wikipedia als grün, weil man sie beispielsweise für die Arbeit braucht. Gelb könnte Facebook oder WhatsApp sein. Das muss man aber bei jedem Patienten individuell festlegen. Parallel dazu muss man die analoge Welt wieder aufbauen, indem wir in der Erlebnistherapie neue Hobbys vermitteln und zeigen, dass die reale Welt auch sehr schön und bunt sein kann.
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