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Verdopplung der Fälle bis 2040 befürchtetWird Diabetes Typ 1 zur neuen Volkskrankheit?

Lesezeit 8 Minuten
Ein Mann testet seinen Blutzuckerwert.

Eine Studie prognostiziert, dass sich die Fallzahlen von Diabetes Typ 1 bis 2040 verdoppeln würden.

Etwa 8,4 Millionen Menschen weltweit lebten 2021 mit Diabetes Typ 1. Und es könnten noch mehr werden: Bis 2040 würden sich die Fallzahlen verdoppeln, prognostiziert eine Studie. Für die Gesundheits­systeme bedeutet diese Entwicklung nichts Gutes.

Bastian Hauck muss nicht lange überlegen, um das richtige Datum zu nennen: „1. Dezember 1997.“ Es kommt ihm auf Anhieb über die Lippen. Obwohl es fast 26 Jahre her ist, erinnert er sich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre. Das liegt wohl vor allem daran, weil dieses Datum sein Leben komplett verändert hat. Es war der Tag, als er die Diagnose Diabetes mellitus Typ 1 bekam. Hauck war damals 20 Jahre alt, leistete seinen Zivildienst als Rettungssanitäter, wollte Medizin studieren.

„Die Diagnose hat mich erst mal aus der Bahn geschmissen“, erinnert er sich. Er verlor seine Arbeit und damit die Wohnung, die ihm während des Zivildienstes zur Verfügung stand. Den Wunsch, Medizin zu studieren, gab er auf. Stattdessen studierte er Wirtschafts­wissenschaften. Auch seinen Traum, die Welt zu umsegeln, machte die Diagnose zunichte.

Einen ähnlichen Schicksalsschlag könnten in Zukunft noch mehr Menschen erleiden: Die Zahl der weltweiten Diabetes-Typ‑1-Fälle werde sich bis 2040 verdoppeln, prognostiziert ein internationales Forscherteam im Fachmagazin „The Lancet – Diabetes & Endocrinology“. Dann gäbe es 13,5 bis 17,4 Millionen Betroffene weltweit. Eine Entwicklung, die gleich mehrere Gefahren birgt.

Wie Diabetes Typ 1 entsteht

Schon jetzt ist Diabetes Typ 1 weit verbreitet: Rund 8,4 Millionen Menschen weltweit lebten 2021 mit Diabetes Typ 1. Etwa zwei Drittel waren zwischen 20 und 59 Jahre alt. Allein in Deutschland belief sich die Zahl der Betroffenen auf knapp 422.000.

Die Autoimmunerkrankung tritt besonders bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Körper kein eigenes Insulin mehr herstellen kann, ein Stoff­wechsel­hormon, das dabei hilft, Glukose, also Traubenzucker, aus dem Blut in die menschlichen Zellen zu schleusen. Ist es nicht in ausreichenden Mengen vorhanden, sammelt sich der Zucker im Blut, der Blut­zucker­spiegel steigt, was schlimmstenfalls zu einem sogenannten diabetischen Koma führen kann.

„Mir war klar, was die Diagnose bedeutet“, sagt Hauck. Als Rettungs­sanitäter wusste er um die Gefahren der Krankheit. Er selbst litt anfangs unter starkem Durstgefühl, er verlor Gewicht, unterzuckerte, mitunter so stark, dass er bewusstlos wurde. Doch Diabetes Typ 1 sei vor allem eine mentale Herausforderung. „Die Krankheit begleitet dich ein Leben lang. Damit muss man erst einmal klarkommen, gerade als junger Mensch.“

Krankheit belastet Gesundheitssysteme – auch das deutsche

Nicht nur deshalb sind die Studienergebnisse aus Sicht der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) ein „Warnschuss für alle Länder“. „Eine Verdoppelung der weltweiten Erkrankungsfälle stellt weltweite Gesundheits­systeme vor enorme Herausforderungen“, mahnt der Verband. Es brauche mehr Expertise bei der Auto­immun­erkrankung, mehr Ärztinnen und Ärzte, die Betroffene behandeln.

Doch genau das Gegenteil ist zurzeit der Fall: Hierzulande entscheiden sich immer weniger Medizinerinnen und Mediziner für die Fächer Diabetologie und Endokrinologie, die Lehre von den Hormonen und dem Stoffwechsel. Grund dafür sei unter anderem die Einführung der Fall­kosten­pauschalen, meint DDG-Vorstands­mitglied Baptist Gallwitz.

In Fachbereiche wie die Kardiologie, die technische Behandlungen und Eingriffe vornehmen, werde folglich mehr investiert. „Die ‚sprechende Medizin‘ fiel dabei in den Hintergrund.“

Das könnte verheerende Konsequenzen haben: „Wenn die Entwicklung so weitergeht, müssen auch hierzulande Menschen mit einem Typ‑1-Diabetes deutliche Versorgungs­probleme und eine reduzierte Lebens­erwartung befürchten“, warnt Gallwitz. „Das wäre ein Armutszeugnis für ein wohlhabendes Land wie Deutschland.“

Diabetes Typ 1 ist in ärmeren Ländern ein Todesurteil

Noch größere Probleme dürfte die Prognose aber ärmeren Ländern bereiten. Dort lebt etwa ein Fünftel der Menschen mit Diabetes Typ 1. Für sie bedeutet die Krankheit vor allem eines: kein langes Leben. Ein Kind, das zum Beispiel in Ägypten lebt und mit zehn Jahren die Diagnose Diabetes Typ 1 bekommt, hat nach Berechnung der Forschenden eine Lebens­erwartung von 29 Jahren. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Lebenserwartung bei 64 Jahren.

Ursächlich dafür, dass Typ‑1-Diabetikerinnen und ‑Diabetiker in ärmeren Ländern früher versterben, ist die Versorgungslage. Zum einen mangelt es an Fachärztinnen und Fachärzten, zum anderen an Medikamenten. Insulin, das Betroffene regelmäßig erhalten müssen, um ihren Zuckerhaushalt zu kontrollieren, ist nicht überall erhältlich oder zu teuer. Das Forscherteam fordert deshalb, die Behandlung von Diabetes Typ 1 für alle zugänglich und erschwinglich zu machen.

In ärmeren Ländern wird Diabetes Typ 1 in vielen Fällen zu spät oder gar nicht diagnostiziert

Erschwerend hinzukommt: In ärmeren Ländern wird Diabetes Typ 1 in vielen Fällen zu spät oder gar nicht diagnostiziert. Von den weltweit 175.000 Todesfällen im Jahr 2021 seien etwa 20 Prozent auf Nichtdiagnosen zurückzuführen. Ohne Diagnose keine Behandlung. Und ohne Behandlung verläuft die Auto­immun­erkrankung in der Regel tödlich.

Das Forscherteam schätzt, dass 3,1 Millionen Menschen noch am Leben wären, wenn sie eine optimale Behandlung bekommen hätten. Und weitere 700.000 Menschen würden noch leben, wenn sie nicht wegen einer fehlenden Diagnose frühzeitig gestorben wären.

Warum nehmen die weltweiten Diabetes-Fälle zu?

Wie stark Diabetes Typ 1 verbreitet ist, wie viele Menschen daran sterben – das ist vielen Ländern jedoch gar nicht klar. Ihnen fehlt es an nationalen Gesundheitsdaten. Mit den Diabetesdaten der Studie können sie sich nun erstmals ein Bild von der eigenen Lage machen. Mithilfe von Modellrechnungen haben die Forschenden für 201 Länder die Fallzahlen, Neu­erkrankungen und Sterblichkeit von Diabetes Typ 1 ermittelt und so eine Prognose bis 2040 stellen können.

Die Studiendaten bringen Licht ins Dunkel: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Gesamtausdehnung von T1D (Diabetes Typ 1, Anm. d. Red.) viel größer ist, als frühere Schätzungen ergaben“, sagt Kim Donaghue, Studienautor von der Sydney Medical School. „Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit, das Bewusstsein für die Anzeichen und Symptome von T1D in den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu schärfen.“

So umfangreich die Studie auch ist, eine Sache bleibt darin unbeantwortet. Nämlich die Frage, warum die Diabetes-Typ‑1-Fälle in Zukunft überhaupt zunehmen werden. „Wer das herausfindet, verdient einen Nobelpreis“, sagt Graham Ogle, Studienautor und General Manager des Life-for-a-Child-Programms, das sich für die Behandlung von Kindern mit Diabetes Typ 1 einsetzt. Die Ursache sei wahrscheinlich „sehr kompliziert und multifaktoriell“. Eine Rolle könnten zum Beispiel Umweltfaktoren spielen, die auf das Immunsystem einwirken.

Diabetologe: Andere Krankheit noch besorgniserregender

Ohne konkrete Ursache wird es schwierig, die Entwicklung zu stoppen oder gar umzukehren. Ist Diabetes Typ 1 also gerade dabei, sich zu einer neuen Volkskrankheit zu entwickeln? Zu einer Erkrankung, die dauerhaft stark verbreitet ist und sich auf die ganze Bevölkerung auswirkt?

Davon könne bisher nicht die Rede sein, meint Diabetologe Gallwitz. Aber auch er beobachtet, dass Auto­immun­erkrankungen grundsätzlich zunehmen. Es gibt jedoch eine andere Krankheit, die aus seiner Sicht deutlich besorgnis­erregender ist: Diabetes Typ 2, eine chronische Stoffwechsel­erkrankung, bei der der Körper zwar Insulin produziert, aber die Körperzellen für das Hormon kaum bis gar nicht empfindlich sind.

Ursachen für Insulinresistenz: schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, zu viel Stress oder erbliche Veranlagungen

Folglich können sie keine Glukose aufnehmen, der Blutzuckerspiegel steigt. Ursache für eine solche Insulinresistenz können eine schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, zu viel Stress oder auch erbliche Veranlagungen sein.

Auch Diabetes Typ 2 setzt sich in der Bevölkerung immer mehr durch. Das zeigt das Beispiel Deutschland: Das Deutsche Diabetes Zentrum (DDZ) und das Robert Koch-Institut prognostizierten schon vor vier Jahren, dass im Jahr 2040 voraussichtlich rund zwölf Millionen Menschen mit der Erkrankung leben werden. Zurzeit sind es rund acht Millionen.

Wie die künftige Fallzahl aussehen wird, hänge davon ab, wie viele Menschen in den nächsten zwei Jahrzehnten neu an Diabetes erkranken, machte Michael Roden, Vorstand des DDZ, damals deutlich. Das sei eine Größe, die durch Prävention und Schulungs­maßnahmen positiv beeinflusst werden könne.

Hauck: „Hätte das nicht geschafft ohne den Support aus der Community“

Die Prognosen zu Diabetes Typ 1 und 2 müssen beide mit Vorsicht interpretiert werden. Es handelt sich eben nur um Prognosen, die von verschiedenen Faktoren abhängen und keine hundert­prozentige Sicherheit bieten. Dennoch zeichnet sich ein eindeutiger Trend ab: Die Welt scheint zunehmend zuckerkranker zu werden. Millionen Menschen müssen also in Zukunft lernen, mit Diabetes zu leben.

Wie das funktionieren kann, hat Hauck inzwischen gelernt. Zwangsläufig. Ihm hilft ein Closed-Loop-System, auch als „künstliche Bauchspeicheldrüse“ bekannt. Ein Sensor unter der Haut misst regelmäßig die Zucker­konzentration in seinem Blut, übermittelt die Daten auf sein Smartphone, während eine Insulinpumpe für den nötigen Hormon­nachschub sorgt.

Insulinpumpe sorgt für Hormonnachschub und verhindert Unterzuckerung und Bewusstlosigkeit

Unterzuckerung und Bewusstlosigkeit gehören dadurch der Vergangenheit an. Immer mehr Diabetikerinnen und Diabetiker greifen auf solch eine Therapieform zurück, wie Umfragen zeigen.

Doch um mit Diabetes fertigzuwerden, brauche es auch jede Menge Selbstdisziplin, sagt der 45‑Jährige. Zum Beispiel, wenn es darum geht, ständig Kohlenhydrate zu zählen, um abschätzen zu können, wie viel Insulin benötigt wird. Hauck blieb entschlossen und konnte sich zehn Jahre später dann doch noch den Traum von der Weltumseglung erfüllen. Obwohl ihm seine Ärzte vehement davon abgeraten hatten.

„Ich hätte das nicht geschafft, ohne den Support aus der Community“, sagt er. Über Onlineforen war er damals in Kontakt mit anderen Typ‑1-Diabetikern aus den USA gekommen, die mit ihrer Erkrankung ähnlich große Abenteuer erfolgreich bewältigt hatten. Hauck holte sich von ihnen Tipps und bewies seinen Ärzten das Gegenteil: Weltumseglung mit Diabetes Typ 1 – das kann sehr wohl funktionieren.

Sich mit anderen austauschen, Alltagshürden gemeinsam überwinden, nicht mit der Krankheit allein sein – das wollte Hauck auch anderen Diabetikerinnen und Diabetikern ermöglichen. 2012 gründete er deshalb #dedoc°, eine internationale Online­community von und für Menschen mit Diabetes. „Es geht darum, Menschen zusammen­zubringen, die einen gemeinsamen Nenner haben“, erklärt Hauck.

Mithilfe eines eigenen Stipendien­programms bringt die Organisation inzwischen Betroffene zu den weltweit renommiertesten wissenschaftlichen Konferenzen. „Die beste Unterstützung findet man in der Community“, ist Hauck überzeugt. „Das gilt nicht nur für verrückte Abenteuer.“