Köln – „Reicht es nicht langsam mit der Pandemie und den Vorsichtsmaßnahmen? Wir werden uns eh alle anstecken und wenn, dann sind wir geimpft und es ist nicht mehr so schlimm. Und dann hat man es hinter sich und ist geschützt.“ Sätze wie diese hört man derzeit immer häufiger. Corona ist uns so nah wie nie zuvor. Wer nicht bereits selbst erkrankt war, hat ganz sicher Freunde oder Kollegen, die es getroffen hat. Einerseits ist die Angst vor Corona zwar weiterhin da, andererseits haben sich viele an die Krankheit gewöhnt und fühlen sich dank Impfung, Booster oder überstandener Infektion relativ sicher. Können wir Corona also bald als Teil des Alltags akzeptieren und wieder normaler leben oder ist diese Nachsicht gefährlich? Die Experten sind sich nicht einig.
Wer vollständig geimpft und nach einem Impfdurchbruch von Corona genesen ist, fühlt sich eine Weile unbesiegbar. So beschreibt es Domenica D’Ottavio in einem New-York-Times-Artikel mit der schönen Überschrift: „I had a breakthrough Covid. Can I start living like it’s 2019?“ (auf deutsch etwa: „Ich hatte einen Impfdurchbruch. Kann ich jetzt wieder anfangen zu leben wie 2019?“). Nach ihrem Impfdurchbruch und der anschließenden Genesung habe sie sich wie eine Superheldin gefühlt: „Es war ein Schock, aber ich war auch erleichtert. Vorher lief ich immer mit Angst herum, die ist jetzt weg.“
Geimpft und genesen: Bei Hybrid-Immunität gibt es besonders viele Antikörper
Dass die Verbindung vollständig geimpft und genesen einen guten Schutz vor einer Reinfektion mit Corona bietet, hat die Wissenschaft mittlerweile erkannt. Dieser Zustand wird Hybrid-Immunität genannt. Untersuchungen deuten darauf hin, dass Geimpft-Genese mehr und bessere Antikörper produzieren als nur Geimpfte. Eine kleine Studie aus Österreich hat bei zehn Geimpft-Genesenen auch eine stärkere Antwort auf die Variante Omikron gefunden als nach einer reinen Impfung.
Wie stark die Immunität ist, hat etwas mit sogenannten Gedächtniszellen und B-Zellen zu tun, die bei einer Impfung oder Infektion gebildet werden. Sie sorgen dafür, dass bei erneutem Kontakt mit dem Coronavirus innerhalb weniger Stunden neue Antikörper gebildet werden. Insbesondere die B-Zellen scheinen hier eine besondere Rolle zu spielen. Bei einer Corona-Infektion taucht das Virus in mehr Körperregionen auf als bei einer Impfung, auch in der Nähe der Lymphknoten, wo die B-Zellen vor allem gebildet werden – womöglich ein Grund für den besseren Schutz. Außerdem lernt der Körper bei einer Infektion das Virus genauer kennen als bei einer Impfung und kann es so besser besiegen.
Absichtlich anstecken, um zur Normalität zurückzukehren? Bloß nicht!
Bisher gibt es noch nicht ausreichend Forschungsergebnisse dazu, wie gut man mit einer Hybrid-Immunität wirklich vor dem Virus und seinen Varianten geschützt ist. Die Virologin Shane Crotty vom La Jolla Institut für Immunologie in San Diego bezeichnet in der New York Times die Hybrid-Immunität zwar als „beste Immunität, die es gibt“, warnt aber zugleich davor, sie als ultimative Lösung zu betrachten.
Das könnte Sie auch interessieren:
Auch der Infektiologe Christoph Spinner vom Klinikum Rechts der Isar in München rät im Bayerischen Rundfunk dringend dazu, eine Infektion zu vermeiden und sich unbedingt impfen und boostern zu lassen: „Es gibt ja sehr häufig die Diskussion, dass eine Infektion das Immunsystem besser trainiere als eine Impfung. Das ist aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil: Die Infektion verläuft ja mit vielen bekannten Komplikationen.“ Das Virus sei unvorhersehbar, könne auch junge Menschen sehr krank machen und zudem Long Covid auslösen, warnt auch Celine Gounder, Spezialistin für Infektionskrankheiten im New Yorker Bellevue Hospital Center. „Ich mache mir große Sorgen, dass sich einige Menschen absichtlich anstecken könnten, um zur Normalität zurück zu gelangen“, sagte sie der New York Times.
Führt Omikron uns von der Pandemie in die Endemie?
Vielleicht könnten wir trotzdem irgendwann zu einer Art neuen Normalität gelangen. Weil Omikron sich schneller verbreitet, aber milder verläuft, könnten sich immer mehr Menschen anstecken, Antikörper entwickeln und langfristig immun werden, machte Charité-Chef-Virologe Christian Drosten Anfang des Jahres Hoffnung auf ein Ende der Pandemie. Mit der Durchseuchung der Gesellschaft könnte die Pandemie zu einer Endemie werden, also einem Zustand, in dem eine Krankheit in einer umschriebenen Population oder begrenzten Region fortwährend gehäuft auftritt und als normal gilt.
Diese Hoffnung bekommt nun einen Dämpfer. „Ich teile die Euphorie nicht, dass Omikron uns jetzt in die Endemie führt. Wir wissen nicht, was für Varianten noch kommen, die die Immunität vielleicht umgehen und auch zu schweren Verläufen führen können“, sagte Gérard Krause, Epidemiologe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Auch Ulrike Protzer, Leiterin des Instituts für Virologie an der TU München, sieht das Ende der Pandemie noch nicht gekommen: „Es ist absolut möglich, dass nach dem Abflachen der aktuellen Welle Delta zurückkommt“, sagte sie der Funke Mediengruppe. Auch weitere neue Varianten seien möglich. Für Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Frankfurter Uniklinik, wird Corona erst endemisch, „wenn alle Kontakt hatten – entweder durch Impfung oder Infektion – und dann die Verläufe einfach milder werden. Und so weit sind wir nicht“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
„Pandemie wäre fast schon ausgestanden, wenn mehr Menschen geimpft wären“
Der Kölner Mediziner Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Universität zu Köln, gibt sich im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger indes vorsichtig optimistisch: „Ich glaube, dass wir nach der Omikron-Welle ein sehr gutes Frühjahr und einen sehr guten Sommer haben werden. Aber ich würde niemals eine längerfristige Prognose machen. Wir haben das schon zu oft versucht.“ Um im Herbst eine weitere Welle zu verhindern, müssten in den kommenden Monaten ausreichend Menschen immunisiert werden. Für ihn wäre die Pandemie „fast schon ausgestanden wäre, wenn deutlich mehr Menschen geimpft wären. Dann wäre die Omikron-Gefahr vergleichbar mit der einer Influenza“, sagte er im Interview, das Sie auch als Podcast hören können.
Was heißt das nun für jeden Einzelnen? Impfen lassen, Maske tragen, Abstand halten, regelmäßige Tests machen und vorsichtig optimistisch ein wenig ins Leben zurückkehren.