Hohe Dunkelziffer„Kauen und Ausspucken“ – die Essstörung, die kaum einer kennt
Köln – Sie lässt das Stück Schokolade auf der Zunge zergehen, doch anstatt es herunterzuschlucken, spuckt sie es anschließend wieder aus – um keine Kalorien zu sich zu nehmen. Seit einem Jahr mache sie das so, bis zu 600 Kilokalorien täglich landeten nach dem Kauen im Mülleimer, schreibt die junge Frau in einem Online-Forum. „Ich weiß, dass es wirklich ekelhaft ist, und ich schäme mich auch.“
„Chewing and Spitting“, also „Kauen und Ausspucken“, heißt dieses Syndrom, das auch CS oder CHSP abgekürzt wird. „Dabei handelt es sich um eine Unterform der Bulimie“, erklärt Diplompsychologe Andreas Schnebel.
Anders als bei der reinen Ess-Brech-Sucht schlucken die Betroffenen ihr Essen gar nicht erst herunter, um es später zu erbrechen, sondern spucken es gleich nach dem Kauen wieder aus.
Insbesondere Frauen sind betroffen
„Insbesondere Frauen leiden unter Chewing and Spitting“, weiß Schnebel aus der Praxis. Offizielle Zahlen gebe es nicht, es sei aber von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, so der therapeutische Leiter von ANAD, einem Versorgungszentrum für Menschen mit Essstörungen.„Scham spielt bei den Betroffenen eine sehr große Rolle. Viele offenbaren sich noch nicht einmal ihren engsten Freunden oder dem Partner“, sagt der Experte vom Bundesfachverband Essstörungen (BFE).
Chewing and Spitting wird zum Zwang
„Zu Beginn empfinden sie diese Methode als ganz angenehm, weil sie Süßigkeiten, Chips oder Kuchen genießen können, ohne die komplette Kalorienzufuhr zu sich zu nehmen. Aber in der Regel steigert sich das gestörte Essverhalten nach einiger Zeit und die Betroffenen spucken auch ihre Hauptmahlzeiten aus“, so Schnebel.
Anfangs glaubten sie, die Kontrolle über ihren Körper erlangt zu haben, doch dann werde das gestörte Essverhalten zwanghaft. Das führe über kurz oder lang zu sozialer Isolation, weil gemeinsames Essen nicht mehr möglich sei.
Betroffene sind ausgzehrt
Auch der Körper leide unter dem Phänomen: „Die Betroffenen sind teilweise ausgezehrt und stark untergewichtig.“ Um wieder gesund zu werden, könne den Erkrankten in der Regel nur eine Psychotherapie helfen. „Dazu müssen sie aber erst einmal einsehen, dass sie krank sind.“ Dabei gehe es nicht nur darum, die Symptome zu bekämpfen, sondern auch darum, den Ursachen auf den Grund zu gehen. „Die Betroffenen sind häufig verunsichert und haben ein geringes Selbstwertgefühl.“
Auch wenn „Chewing and Spitting“ noch relativ unbekannt ist: „Es handelt sich nicht um ein neues Phänomen“, sagt Schnebel. „Schon vor rund 25 Jahren habe ich Patienten mit diesen Symptomen behandelt“, so der Experte. „Doch seit einiger Zeit wird vermehrt darüber berichtet.“
„Es ist unglaublich schwer, wieder normal zu denken“
Dabei ist das Forschungsmaterial zu dem Syndrom rar, wie der Wissenschaftler Phillip Aouad bemängelt. Der Forscher von der Universität Sydney lieferte vor zwei Jahren nach eigenen Angaben den ersten systematischen Überblick zu den wenigen Studien über „Chewing and Spitting“. Aoud zufolge tritt das Phänomen eher bei jungen Menschen auf. Sein Rückschluss: Zu dem Thema müsse dringend mehr geforscht werden.
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Der jungen Frau aus dem Forum, die ihr Essen regelmäßig ausspuckt, helfen diese Erkenntnisse noch nicht. Andere Nutzer ermutigen sie eine Therapie zu machen. Sie sei schon in Behandlung, antwortet die Betroffene. Doch: „Es ist leider unglaublich schwer, wieder normal zu denken.“ Und: „Ich wäre selber wahnsinnig froh, wenn ich von diesem Sch… wegkommen würde.“